Bunte Vielfalt an kleinen Spezialisten: Die Zeit, in der Reformhaus-Kunden als Spinner und Körndlesser abgetan wurden, ist vorbei.

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Wien - Alexander Martin erinnert sich noch gut an die Zeiten, in de-nen die Betreiber kleiner Reformhäuser als Spinner und Körndlesser abgetan wurde. Jahre, in denen sie ihre Geschäfte in abgelegenen Seitengassen versteckten und ihnen der Ruf vorauseilte, nur Omas mit ihren Pülverchen und Elixieren zu versorgen. Mittlerweile bedient der Tiroler Jungfamilien wie Sportler. Seine Sortimente gelten plötzlich als hip, und emsig eröffnet er quer durch Österreich eine Filiale nach der anderen.

Mehr als hundert Jahre lang lebte Martins Familie vom Drogeriegeschäft, führte Fotos, Farben und Chemikalien ebenso wie Babywaren - bis große Handelsketten all dem schlagartig den Boden entzogen. Mitte der 90er-Jahre versuchte sich seine Mutter, inspiriert von der Biobewegung, mit einem reinen Reformhaus. Martin sammelte einschlägige Erfahrungen in der deutschen Branche und multiplizierte das Konzept in Österreich.

Da und dort mehr Potenzial

Knapp 30 Standorte starteten in den vergangenen elf Jahren, wobei die Innsbrucker dabei nie öffentliches Rampenlicht suchten. Erst jüngst mietete sich Martin mit den gleichnamigen Reformgeschäften am Wiener Hauptbahnhof ein, bis Jahresende folgen zwei weitere in Wien. Mit mehr als 200 Mitarbeitern will er heuer an 35 Standorten 30 Millionen Euro umsetzen.

Da und dort sieht Martin noch Potenzial für mehr Shops. "Aber wir lassen bei der Expansion die Vernunft walten." Konkurrenz ge-be es durch große Supermarktkonzerne ohnehin genug, da brauche seine Branche nicht auch noch ei-nen selbstverschuldeten ruinösen Wettbewerb. Zumal es darum ge-he, sich durch viel Beratung und hohe Qualität von Ketten abzuheben, bei denen Mitarbeiter überwiegend an der Kassa sitzen.

In Österreich tummeln sich geschätzt 150 Reformhäuser, die in Summe 70 bis 90 Millionen Euro an Umsatz erzielen. Exakte Daten dazu fehlen, zu sehr verschwimmen die Grenzen zu reinen Bioläden und anderen Fachhändlern.

Viele Pioniere sperrten zu

Es ist nicht lange her, da wurde die kleine Branche totgesagt. Manche verschliefen den Biotrend und gerieten in schwere Identitätskrisen. Andere koppelten sich nicht engagiert genug von Supermärkten ab und verstaubten. Reihenweise räumten in der Folge einstige Pioniere das Feld. Mittlerweile jedoch sei die Bereinigung vorbei, ist Ralph Liebing, einst Chef des Vereins für Naturkostfachhandel und nun Berater für Biomarketing, überzeugt. "Der Fachhandel hat sich gesundgeschrumpft." Wenngleich es für Kleine nicht einfach sei, die hohen Kosten für gute Geschäftslagen zu finanzieren.

"Für Spezialisten und regionale Heroes ist in Nischen Platz", sagt auch Wolfgang Richter, Chef des Marktforschers Regioplan. Die Reformhäuser seien lange Zeit nicht gerade trendig gewesen, viele aber hätten nun das staubige, trockene Image abgeschüttelt. Es ist weniger die Lust auf Bio, die die Branche nährt. Vielmehr suchen Kunden mit veganen Vorlieben und Lebensmittelunverträglichkeiten hier Auswahl und Beratung. Auch der Boom der Naturkosmetik verschafft frischen Spielraum.

Radius erweitern

Christian Prokopp bedient den Markt in vierter Generation von Niederösterreich aus. 14 Reformhäuser zählt er, das 15. eröffnet im April in Wien. Mit 100 Mitarbeitern setzt er 15 Millionen Euro um. Auch Linz und Graz bieten sich zur Expansion an, meint der aus einer Drogistenfamilie stammende Unternehmer. "Wir erweitern schön langsam unseren Radius." Die fünfte Generation, seine Tochter, tritt in seine Fußstapfen.

Thomas Bogataj baut bei seinen mehr als 20 Natur-&-Reform-Läden auf Franchisepartner. Ansonsten ist der Markt den Einzelkämpfern überlassen. Christina Wolff-Staudigl etwa. Schon als Kind stand sie im Arbeitsmäntelchen im Wiener Geschäft ihrer Eltern, erinnert sie sich. Heute beschäftigt sie in der Wollzeile 25 Mitarbeiter, bildet vier Lehrlinge aus und versucht, ihren Kunden "eine Portion Lebensgefühl" mitzugeben. Im Kachelofen ihres Reformhauses lodert hinter Glas ein Feuer. An der Theke wird mittags vegan und vegetarisch aufgekocht, der Duft von Kräutern liegt in der Luft. Die kriselnde Konjunktur hat bei ihr keine Spuren hinterlassen, sagt sie. "Die Leute kaufen bewusster ein, verwöhnen sich mit besonderen Produkten und sparen anderswo." Dem Reiz der Expansion ist Staudigl nie erlegen. Damit ließe sich die Qualität nicht halten, sagt sie. "Mein Geschäft ist für mich wie ein kleines Schmuckkästchen." (Verena Kainrath, DER STANDARD, 21.2.2015)