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Im niederösterreichischen Ausflugsgebiet Hohe Wand sind viele Familien mit Kindern unterwegs. Für eine Wiener Ärztefamilie endete ein Herbstsonntag mit einer Tragödie.

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Der 19. Oktober 2014 ist ein prachtvoller Sonntag, ideal für eine Wanderung. Kinderarzt Manuel Steiner und seine Frau Trawat sind auf der Hohen Wand unterwegs, einem beliebten Ausflugsziel für Wiener in Niederösterreich. Ihre beiden Söhne Til (5) und Liam (3) sind dabei. Der Kleine sitzt beim Vater angeschnallt in der Rückentrage. Beim Abstieg auf dem Springlessteig rutscht Til aus, gerät hinter die Absperrung. Sein Vater versucht ihm zu helfen. Alle drei stürzen vor den Augen der Mutter, die nicht mehr helfen kann, in die Tiefe.

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"Ich erinnere mich sehr lückenhaft. An Hubschrauber, an Menschen. An Bergretter, die schnell da waren, weil sie einen Übungseinsatz in der Nähe hatten. Aber oben auf dem Berg wusste ich nicht, ob und wer überlebt hat. Erst unten im Tal hat mir ein Mitarbeiter der Rettung gesagt, dass mein Mann tot ist, mein kleiner Sohn auch. Ich war wie betäubt, habe nichts gefühlt, mein Kopf war leer. Und dann bin ich mit einem Rettungsfahrer los Richtung Wien ins SMZ Ost. Dort wartete mein Bruder, den ich verständigt hatte, meine Eltern, die Eltern von Manuel. Til wurde gerade notoperiert. Die einzige Nachricht, die zählte und an die ich denken konnte, war: Mein Sohn lebt."

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Trawat Attarbaschi-Steiner ist eine zierliche, sportliche Frau. Trawat ist ein persischer Name, sie ist Psychiaterin. Mit ihren dunklen, kinnlangen Haaren, ihren Stirnfransen und den lebhaften Augen wirkt sie jugendlich. Frisch, trotz ihrer Blässe. Sie hat eine helle Stimme. Wenn sie spricht, reden ihre schmalen Hände mit. Wenn es um Til geht, formen ihre Finger eine Geste, so als ob sie ihn beschützte. Sie weint nicht.

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"Ein Kind auf der Intensivstation sieht ja ganz anders aus. Überall Schläuche, Monitore, Infusionen. Es piepst ständig. Auf den Bildschirmen zacken sich Blutdruck, Herzfrequenz, Puls- und Hirndruck. Alles scheint unwirklich. Ich habe mich neben das Bett gesetzt, seine Hand gestreichelt. Ich war in diesen ersten Tagen wie betäubt, und obwohl ich gar nicht richtig denken konnte, war mein Informationsbedürfnis riesengroß. Was ist los? Wie geht es weiter?"

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Der fünfjährige Til hatte sich beide Oberschenkel gebrochen. Die Notoperation, bei der ihm Verbindungsdrähte in die Knochen eingesetzt wurden, war erfolgreich, die Blutungen wurden gestoppt. Das Akut-CT hatte ergeben, dass Til Lungenquetschungen erlitten hatte und die Schädelbasis gebrochen war. Für die beiden hauptbehandelnden Ärzte Christian Scheibenpflug, den Leiter der Kinderintensivstation, und seinen Kollegen Robert Luntzer war das schwere Schädel-Hirn-Tauma die größte Sorge. Das Gehirn hätte jederzeit weiter anschwellen können. Weil der Schädel sich nicht ausdehnen kann, würde sich daraus eine akut lebensbedrohliche Situation ergeben. Um jeden Stress zu reduzieren, wird Til in künstlichen Tiefschlaf versetzt.

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"Die nächsten drei Wochen werden entscheidend sein. Das erfuhren wir beim ersten großen Arztgespräch am Montag nach dem Unfall. Meine ganze Familie war im Spital. Meine Eltern, meine Schwiegereltern, mein Bruder, meine Schwägerin. Es war ein langes Gespräch. So wie bei allen darauffolgenden war keiner von Tils Ärzten jemals in Eile. Ich habe viele Fragen sehr oft gestellt, auch sehr oft die Antworten gleich wieder vergessen. Das war egal. Sie waren geduldig. Und sie haben mir zu jedem Zeitpunkt die Wahrheit gesagt. Mein Mann war Kinderarzt und Intensivmediziner, wir haben oft gesprochen, wie es ist, mit Eltern schwerkranker Kinder zu sprechen. Jetzt erlebte ich das. Sie brachten mir bei, in kleinen Schritten zu denken. Heute ist heute. Morgen ist morgen. Heute ist es gut. Und morgen werden wir weitersehen. Und ich wusste: Hier auf dieser Kinderintensivstation wird alles Menschenmögliche gemacht. Der Rest ist so etwas wie Schicksal."

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Polytrauma lautete die Diagnose. Die Familie organisiert ein "Radl", damit Til zu keinem Zeitpunkt allein in seinem Intensivbett liegt. Die Krankenhausleitung besorgt für die Mutter ein Zimmer im Spital, in dem sie übernachten kann, um jederzeit da zu sein, sollte sich die Lage verschlechtern. Die Nachricht von diesem tragischen Unfall verbreitet sich schnell. Viele melden sich bei ihr, rufen an, schicken SMS oder kommen zu Besuch.

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"Mit der Zeit kommt man aus dem Schockzustand raus, beginnt zu begreifen, was das alles bedeutet. Meine Familie hat mich dabei unterstützt – mein Bruder, meine Eltern, meine Schwiegereltern, sie waren immer für mich da. Aber auch die Nachrichten meiner Freunde und Bekannten haben mir gutgetan. Mein Arbeitgeber, meine Kollegen, die Arbeitskollegen meines Mannes, meine Freunde: Sie alle haben sich gemeldet, mich unterstützt und mir das Gefühl gegeben, nicht allein zu sein. Mit ihnen zu reden, ihnen zu schreiben bedeutete auch eine Abwechslung. Solidarität lässt einen sich weniger allein fühlen."

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Während Til im SMZ Ost auf der Kinderintensivstation liegt, muss sich seine Mutter aber auch um die Verstorbenen kümmern. Ihr Mann und kleiner Sohn liegen noch in Niederösterreich, sollen nach Wien überstellt werden. Auch die Trauerfeier ist zu organisieren. Die Familie hilft. Am Donnerstag, dem 23. Oktober, will sich Trawat Attarbaschi-Steiner von ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn verabschieden. Ihr Bruder bringt sie nach Grünbach nahe der Hohen Wand. Da kommt der Anruf von Christian Scheibenpflug: Til hat eine weite, lichtstarre Pupille, es könnte das Vorzeichen für eine zunehmende Hirnschwellung sein. Til muss in die akute Bildgebung. Die Mutter und die Familie sollen dringend ins Spital kommen.

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"Wir sind dann in einem irren Tempo über die Autobahn. Vor dem Krankenhaus bin ich aus dem Auto gesprungen, mit weichen Knien in den zweiten Stock auf die Kinderintensivstation. Christian Scheibenpflug hat schon an der Tür auf uns gewartet. Das war eine kleine Geste, aber vielleicht der wichtigste Moment. Denn er hat Entwarnung gegeben. Die Verletzung sei zwar schlimm, aber Til war nicht in akuter Lebensgefahr. Ich war unendlich erleichtert, hatte aber den Eindruck, dass Tils Ärzte auch über mich und das, was mir wichtig ist, nachdenken. Christian Scheibenpflug und Robert Luntzer boten mir die Möglichkeit, über den Unfall zu sprechen. Reden hilft mir. Es hilft mir, meine Gedanken zu strukturieren. Meine Perspektiven zu wechseln. Die Ärzte, das Pflegepersonal, auch meine Freunde haben mir immer wieder diese Möglichkeit geboten. Das ist nicht selbstverständlich. Was meine Hoffnung betrifft: Dass alles medizinisch Machbare getan wird, um Tils Leben zu retten, war mir klar. Dass Tils Ärzte mit meinem Sohn eine eigene Beziehung aufzubauen begannen, obwohl er bewusstlos dalag, habe ich täglich mehrmals gesehen. Wichtiger als alles war aber die Atmosphäre von Ehrlichkeit. Sie haben mir gesagt, dass die Krankengeschichten von Kindern nur zu einem Teil vorhersagbar sind. Und dass es da eine Eigendynamik gibt, die auch sie mit ihrer ganzen Erfahrung nicht vorhersagen können. Diese Ehrlichkeit war immer auch die Philosophie meines Mannes. Sie hat mir Geborgenheit und Hoffnung gegeben."

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Manuel Steiner und sein Sohn werden am 7. November mit einer Trauerfeier verabschiedet. Trawat lebt im Krankenhaus, hat die gemeinsame Wohnung nach diesem verhängnisvollen Sonntag kaum mehr betreten. Weil Tils Zustand mittlerweile stabil ist, erlaubt sie sich manchmal einen Spaziergang, trifft Freunde auf eine Stunde oder holt sich Hilfe, zum Beispiel bei der Boje, einem Verein, der Kindern und Jugendlichen hilft, mit Verlust umzugehen. Auch für sich selbst organisiert sie professionelle psychotherapeutische Unterstützung.

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"Irgendwann habe ich realisiert, dass der Verlust meines Mannes und meines kleinen Sohnes ein beständiges Ereignis sein wird. Und dann spürte ich diesen unendlich tiefgehenden, vernichtenden Schmerz – stark wie nichts zuvor. Das Schlimme daran ist, dass dieses Gefühl mich immer in unerwarteten Momenten getroffen hat. Das Gute daran war, dass dieser Schmerz in Wellen kommt. Mit der Zeit habe ich gelernt, dass dieses schlimme Gefühl seine Intensität auch wieder verliert, schwächer wird – sodass ich weitermachen kann. Neben diesem Schmerz gibt es noch eine andere Emotion. Es ist die Trauer, die so etwas wie ein Hintergrundrauschen wird. Dieses Gefühl ist sanfter und gibt einem die Möglichkeit, tröstende Gedanken zu fassen, etwa dass ich sehr schöne Zeiten mit meinem Mann und meinem kleinen Sohn hatte, dass ich dafür dankbar bin und mir niemand diese Erinnerung nehmen kann. Ich empfinde mich heute als einen Menschen, der einen schweren Verlust erlitten hat. Ich lerne, das anzunehmen – vor dem Hintergrund, dass der Tod zum Leben gehört und im Leben nichts von Dauer ist und dass es viele Mütter gibt, die ihre Männer und Kinder verlieren. Ich bin nicht allein mit meinem Leid."

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Tils Zustand ist stabil. Die massive Hirnschwellung kann therapeutisch beherrscht werden. Nachdem er drei Wochen im künstlichen Tiefschlaf verbracht hat, beschließen die Ärzte, seine Medikamente zu reduzieren, ihn aufwachen zu lassen. Es ist ein langsamer Prozess über viele Tage, der von Entzugserscheinungen begleitet ist.

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"Til ist ein starkes Kind. Das habe ich schon immer gewusst – und es hat uns früher manchmal auch vor Herausforderungen gestellt. In den drei Wochen an seinem Krankenbett hab ich mir dann gedacht: Til ist mehr als 150 Meter einen Berg runtergefallen. Es hat ungefähr 30 Minuten gedauert, bis er im unwegsamen Gelände dort geborgen werden konnte. Wenn er hätte sterben wollen, hätte er es am Unfallort getan. Irgendwann war ich zuversichtlich, dass er es schaffen würde. Vielleicht lag es auch daran, dass mir seine Ärzte und das ganze behandelnde Team immer wieder auch die positiven Neuigkeiten über Tils Gesundheitszustand mitgeteilt haben. Die Organfunktionen stabilisierten sich. Auf den CT-Bildern waren keine Wirbelsäulenverletzungen auszumachen, sein Becken war nicht gebrochen. Das waren gute Nachrichten. Als man ihn dann aus dem Tiefschlaf holte, hatte er Entzugserscheinungen, darauf war ich gefasst. Er hat gezittert, halluziniert. Eines Tages hat er kurz ein Auge aufgemacht – und dann weitergeschlafen –, am nächsten Tag beide Augen. Und dann kam der Tag, an dem er mich anschaute und ganz leise 'Mama' geflüstert hat."

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Til wird wahrscheinlich ohne bleibende Schäden diesen Unfall überleben und wieder ganz gesund werden. Doch vorerst kann er weder seinen Kopf halten noch sitzen, stehen, geschweige denn gehen. Jeden Tag kommt Physiotherapeut Mikulas Jagyugya, um Tils Muskeln langsam wieder zu aktivieren.

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"Dass er uns alle erkennt, weiß, wer wir sind: Das war eine riesige Erleichterung. Er muss aber alles wieder lernen, wie ein Baby. Sein Physiotherapeut Miki kommt jeden Tag, um mit ihm zu turnen. Es tut Til weh, aber Miki ist in Tils Wahrnehmung sein Freund. Er mag ihn, weil er lustig ist, Humor hat und weil Til das mag. Ich lache ja auch gerne. Irgendwann war es Til auch langweilig. Seine Freunde aus dem Kindergarten sind gekommen, haben ihn besucht, mit ihren Eltern. Zu diesem Zeitpunkt hat Til vermehrt zu fragen begonnen, wo sein Papa und sein Bruder sind."

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Seine Mutter hatte diese Frage erwartet und sich mit der Beraterin von der Boje besprochen. Die Boje bietet Akuthilfe für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen, aber es werden auch Eltern und Bezugspersonen in schwierigen Lebenslagen betreut.

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"Ich spreche immer wieder mit Til und sage ihm ehrlich, dass wir alle nicht genau wissen, was nach dem Tod ist, dass viele sagen, man komme in den Himmel. Aber ich frage ihn lieber, wie er sich das vorstellt, was er glaubt. Ich will ihm gerne keine Bilder vorgeben und ihm die Möglichkeit geben, eigene Fantasien zu entwickeln. Vor kurzem hat er gesagt, er glaube, die beiden spielen auf den Wolken mit Autos. Mir ist wichtig, dass er nicht glaubt, sein Vater schaut ihm von oben zu. Vor kurzem waren wir beide in unserer Wohnung. Es fällt mir nicht leicht, dort zwischen allen Erinnerungen zu sein. Aber ich gewöhne mich. Til hat sich über seine Spielsachen gefreut. Es ist seine gewohnte Umgebung."

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Ende November wird Til auf die Normalstation verlegt. Seine behandelnden Ärzte von der Kinderintensivstation kommen immer wieder vorbei und freuen sich über seine Fortschritte. Anfang Februar wird er ins Kinder- und Jugendrehabilitationszentrum Vogtareuth in Bayern entlassen. Der Abschied vom Krankenhaus ist den beiden nicht leichtgefallen. Darum wollte Trawat Attarbaschi-Steiner auch ihre Geschichte erzählen – weil sie sich bei Christian Scheibenpflug, Robert Luntzer, dem Pflegeteam der Kinderintensivstation, aber auch beim Team des Physikalischen Instituts und allen anderen Ärzten und Pflegern des SMZ Ost, die Til betreut haben, bedanken will. Dankbar ist sie auch Tils Großeltern, seinem Onkel und allen anderen Familienmitgliedern und Freunden, die ihr in dieser Zeit eine Stütze waren. Trawat nennt das, was sie im Spital erlebt hat, Empathie und Wertschätzung. Sie haben ihr im großen Unglück viel Kraft gegeben. (Karin Pollack, DER STANDARD, 21./22.2.2015)