Auf einmal ist wieder alles so, wie es gehört. So, wie man es erwartet. Von irgendwoher läuten Kirchturmglocken, deren Klang im Tal von den Bergen hin und her geworfen wird. Aus einem geöffneten Fenster klingt Gitarrenmusik. Vor einer Tapas-Bar plaudern noch ein paar Menschen, während jemand mit zwei wuscheligen Pyrenäen-Hütehunden an der Leine vorbeigeht. Plötzlich ist wieder der Wind zu hören, die Bergluft zu schmecken. Auf einen Schlag hat sich aller Trubel gelegt: ein Samstagabend in Andorra La Vella, der Hauptstadt von Andorra.

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Andorra La Vella von seiner schönen Seite

Gleich nach Geschäftsschluss ist das Fürstentum wieder ein stilles Land in den Pyrenäen geworden, gerade 468 Quadratkilometer groß. Dann sieht es auch in den eben noch verstopften Straßen der Hauptstadt wieder aus wie in Encamp oder Canillo, wie in La Massana und Ordino, sogar wie in den Dörfern weit oben in den Bergen.

Niedrige Zölle, niedrige Mehrwertssteuer

Ralph Lauren ist im Tal geblieben, Calvin Klein kam nie über 1.100 Meter hinaus. Armani macht es nicht anders als Hilfiger, als Rolex und Co. Sie bleiben von jeher dort, wo sich vor allem an Freitagen und Samstagen die Menschen drängen - dort, wo die klaren Bäche und die grünen Hochtäler gefühlt in großer Ferne sind: Die Edelmarken türmen sich in den Auslagen der Geschäfte unten in der Hauptstadt, liegen in den Regalen und Vitrinen der Boutiquen.

22.000 Einwohner hat die Kapitale des Fürstentums. An manchen Tagen fühlt es sich an, als wären es in Wirklichkeit gleich ein paar Mal so viele Menschen. Warum das so ist? Andorra gilt als Shoppingparadies - wegen der niedrigen Zölle und Mehrwertsteuer. Luxusmarken sind spürbar günstiger als nebenan in Spanien oder in Frankreich. Die Nachbarn kommen in langen Autokolonnen, um Beute zu machen.

Ein Bergdorf aus der Form

Dabei verläuft sich der Andrang schnell, sobald man die Hauptstadt wieder verlassen hat und das Land plötzlich an Weite zu gewinnen scheint. Sowieso nach Geschäftsschluss, wenn die Metropole wieder zu dem wird, was sie ist: ein Bergdorf - nur ein bisschen aus der Form geraten, eilig in die Höhe gewachsen - und nicht der schönste Flecken in diesem Land.

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Die Granithäuser von Pal sind nur einen Steinwurf von Andorra La Vella entfernt. Dennoch kommen nur wenige Besucher aus der Hauptstadt herauf.
Foto: Ursula Gahwiler / Robert Harding / picturedesk.com

Wo Andorra noch wie damals ist, bevor es Schlussverkäufe gab? Weiter oben in den Bergen. Wie man am besten in dieses alte Andorra kommt? Erst mit dem Auto, dann weiter zu Fuß. Und vielleicht ein Stück weit mit der Seilbahn. Hotels gibt es selbst hoch oben, dazu stille Seen und viele ausgeschilderte Wanderwege.

Manchmal macht er es aus Spaß mitten im Sommer, oft macht er es im Frühling. Er kommt ganz kurz zurück und tupft über Nacht die Bergspitzen weiß, klebt ein paar Flocken in die Tannen, malt ein paar Eiskristalle auf die Fenster: Der Winter ist in Andorra nie weit - nicht in einem Land, das kleiner ist als die Insel Ibiza und es doch auf 65 Gipfel bringt, die die 2.000-Meter-Grenze überschreiten. Dennoch räumt die Sonne fast überall und im Laufe des Vormittags wieder auf und schmilzt die Spuren des nächtlichen Niederschlags.

Logen mit Blick auf Granit

Die Luft ist klar an solchen Tagen, besonders im Frühling, und manchmal dauert es bis Mittag, bis die Moose neben den Wanderwegen wieder so weit aufgewärmt sind, dass sie als Picknick-Plätze taugen, als Logenplatz mit Aussicht auf all die Berge drumherum - auf Granit, der den Blick auf Andorra La Vella verstellt - auf Ralph Lauren, Tommy Hilfiger und all die anderen da unten in den Regalen.

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Aus kleinen Quellen gurgelt es, und irgendwann hat auch die Blümchen im Gras die Nachricht erreicht, dass die Temperaturen steigen. Bald sind die Vögel da - erst die Singvögel, manchmal auch die Adler auf Patrouillenflug. Und ehe das alles zu romantisch wird, bellt von irgendwoher ein Schäferhund mit tiefer Stimme dazwischen und sagt in seiner Sprache, dass der Bauernhof da vorn ihm gehöre.

Den relativen Reichtum sieht man dem Land an. Baufällig ist hier nichts, und wirklich alt sind nur Kirchen. Niedrige Einkommensteuersätze haben es für viele erstrebenswert gemacht, sich um die Staatsbürgerschaft zu bemühen, eine Villa am Hang zu bauen oder ein altes Gehöft einmal um sich selbst zu krempeln und zum Luxusdomizil umzubauen. Was von all dem Geld in den Staatskassen hängenblieb, wurde in Infrastruktur und Antlitz investiert.

Andorra ist nicht Monaco

Dabei geht es hier kaum einem ums Sehen und Gesehen werden, eher ums Gegenteil. Andorra ist nicht Monaco, gänzlich uneitel im Vergleich. Kaum jemals taucht das Fürstenhaus in den Illustrierten auf - obwohl es zwei gleichberechtigte Prinzen gibt, die das kleine Land regieren. Seit vielen Jahrhunderten ist das so. Aus derselben Familie sind sie nie - ein einmaliges Konstrukt: Der eine ist als Rechtsnachfolger des französischen Königs stets der amtierende Präsident von Frankreich, der andere der Bischof von Urgell auf spanischer Seite der Grenze. Sie beide führen den Titel "Ko-Prinzen von Andorra".

Das Prinzip hat sich bewährt - seit 1278, als niemand darüber nachdachte, dass Andorra mal ein Shopping-Reiseziel werden könnte. Die beiden sind selten da, noch seltener gemeinsam. Zum Wandern verabredet haben sie sich angeblich auch noch nie. Ganz sicher ein Fehler. (Helge Sobik, DER STANDARD, 21.2.2015)