Plastik, überall Plastik! Der alte Inder am Pamba-Fluss kann die Uhr danach stellen, wann der ganze Krempel wieder vor seiner Bambushütte dümpelt. Dreimal täglich sammeln sich Berge von Kunststoff in seiner Waschküche, einem natürlichen Kanal 60 Kilometer südlich von Kochi, dem größten Ballungsraum im Bundesstaat Kerala.

Im Land der Kokospalmen

Die erste Plastikflut kommt um halb acht in der Früh, wenn er sich die Zähne putzt, dann noch eine um halb eins, wenn er nach dem Mittagessen die Curryreste aus den Töpfen spült, und eine letzte um drei, wenn der Pamba Waschmaschine ist. Am Nachmittag wird im Staate Kerala Unterwäsche durch das 15 Grad kalte Flusswasser gezogen - und das ist beileibe nicht die einzige Besonderheit der südwestlichsten Region Indiens.

Foto: Sascha Aumüller

Kerala bedeutet wörtlich übersetzt "Land der Kokospalmen", was ein wenig danach klingt, als gäbe es dort kaum nennenswerte zivilisatorische Errungenschaften. Die gibt es aber: Nirgendwo anders in Indien ist die Alphabetisierungsrate höher. Und in Kerala gelangte zum ersten Mal in der Geschichte eine kommunistische Regierung durch freie Wahlen ins Amt. Auch ist man dort stolz auf das Malabarische - oder Malayalam wie diese eine von insgesamt 22 anerkannten Nationalsprachen Indiens laut heißt -, weil die Hauptstädter aus Neu-Delhi keine einzige Silbe davon verstehen.

Aber kehren wir zurück zu den dräuenden Problemen des Staates: der relativ rezenten Plastik-Problematik. Kein einziges Sackerl, keine achtlos weggeworfene Konservendose und auch keine leere Schnapsflasche versauen dem Mann mit dem Putzfimmel den Blick auf den blitzsauberen Kanal. Bloß dieses bunte Klumpert aus PVC verfängt sich immer in den violett blühenden Wasserhyazinthen vor seinem Waschplatz. Doch beschwert sich der Alte? Nein, er winkt dem Zeug sogar noch freundlich zu. Die Inder haben echt ein perverses Verhältnis zu Plastik.

Grüße ans Treibgut

Die Fremdkörper, die der Mann begrüßt, sind eigentlich Schwimmkörper, in denen Fremde sitzen: zwei abgesandelte Typen aus Manchester, die Goas längst vergangene Hippie-Ära in Kerala nachholen wollen, zwei Ladys aus New York mit viel zu kurzen Hotpants, ein mit Sonnenschutzfaktor 70 präparierter Australier, ein all das notierender Österreicher - und Binu Joseph. Der Mann mit dem christlichen Nachnamen, den in Kerala viele Dienstleister tragen, obwohl dort nur 19 Prozent der Bevölkerung dieser Religion angehören, hat ihnen bunte Kajaks besorgt. Gemeinsam durchkreuzen sie nun das dörfliche Leben entlang des 1.500 Kilometer langen Kanalsystems der Backwaters - und sind an den bewohnten Wasserläufen tatsächlich das einzige künstliche Treibgut.

So schaut es aus, wenn es sich auf den Wassernebenstraßen des Pamba-Flusses staut. Da sollte eigentlich noch Platz sein für ein paar Kajakfahrer in Kerala.
Foto: Sascha Aumüller

Als bislang erste Kajakguides in Kerala schicken Binu und seine Mitarbeiter Paddler durch die schönsten Passagen von 29 Seen und Lagunen, 44 Flüssen und tausenden Kanälen - und das bereits in drei Schichten. Denn da gibt es die Naturburschen, die fürs Bird Watching schon um halb sieben von der Ablegestelle in Alappuzha aufbrechen wollen. Dann sind da die Romantiker, die knapp vor Sonnenuntergang einem alten Mann dabei zuschauen möchten, wie er seine frisch gewaschenen Unterhosen in die Mangel nimmt. Bleiben noch die Sportlichen, die hochmotiviert zur Ganztagesfahrt aufbrechen, um dann doch irgendwann in den Wasserhyazinthen desselben Inders stecken zu bleiben.

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"Ihr dürft nie aufhören zu paddeln, sonst kommt ihr aus dem Kraut überhaupt nicht mehr raus, und der Mann am Ufer wird euch auslachen", sagt Binu. Natürlich lacht der alte Mann, und das völlig zu Recht, denn als effizienteren Antrieb für Kanus und Transportschiffe, die Kettuvallam, benutzen die Menschen hier seit Jahrhunderten lange Holzstöcke. Die verheddern sich nicht so leicht im dichten grünen Teppich der Backwaters wie Paddel aus Plastik.

Im Schlepptau

Ein Motorboot nimmt die bunten Nussschalen immer wieder ins Schlepptau. Auf dem 83 Kilometer langen See Vembanad etwa, weil dort Linienschiffe Wellen schlagen, die Kajakfahrer nerven. Auch ganze Flotten an Hausbooten, die mit europäischen Modellen nichts gemein haben, sind ein Ärgernis: Hoch wie ein Haus und recht flink für ein Boot, finden darauf oft nordindische Großfamilien Platz, die sich zu basslastigen Bollywood-Hadern von einer Mannschaft bekochen und chauffieren lassen.

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Ein Muscheltaucher im Vembanad See
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In einem weiten Kanal löst Binu die Taue wieder und lässt sein Trüppchen in Richtung Shop 95 paddeln. Nach fünf Stunden im Kajak erscheint diese Imbissbude wie eine Fata Morgana, die in der Schwüle des Nachmittags verheißungsvoll nahe flimmert, obwohl das Ufer noch fern ist. Distanzen und Größenverhältnisse sind auf den Wasserstraßen schwer einzuschätzen, wenn nicht gerade ein Kanute mit rotem Sonnenschirm auf dem Kopf sein winziges Boot in den riesigen Schatten eines Hausbootes lenkt. Doch dann, ein paar Bananenblätter sind vom Kajak aus schon zum Greifen nahe, ruft Binu wie in Ekstase: "Kingfisher!"

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Die Erwartungen, die mit diesem Ausruf verbunden sind, könnten unterschiedlicher nicht sein. Ein vom Paddeln völlig ausgedörrter Australier assoziiert damit jenes erfrischende Elektrolytgetränk, das in Indien als Bier verkauft wird. Doch seine Hoffnungen schwinden, als Binu auf ein Tier zeigt: Es ist ein echter Eisvogel, der kein Flaschenetikett, sondern einen Ast ziert. Sie zerschlagen sich ganz, sobald er im Shop 95 sitzt. "No beer!", verkündet der Wirt und hält sich damit an die seit Anfang 2015 in Kerala geltende Prohibition, mit der man Alkoholmissbrauch in den Griff bekommen will.

Zum unkomplizierten Verzehr bestimmt

Umso besser. Kokoswasser passt perfekt zum landestypischen Bauernschmaus, den der Wirt serviert: Auf ein Bananenblatt legt er frischen Barsch aus dem Kanal, daneben dreierlei Currys und Klebreis - ein köstliches Mahl, zum unkomplizierten Verzehr mit der Hand bestimmt.

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Der mit der Linken schreibende Österreicher hat die "böse Hand" zwischen Gesäß und Plastiksessel geparkt, um seine guten indischen Tischmanieren zu beweisen. Doch der Wirt, dem diese Geste aufgefallen ist, kann darüber nur lachen. "Sie dürfen ruhig mit der unsauberen Hand essen", sagt er, "denn die gibt es nicht mehr. Unsere Wirtschaft wächst so stark, dass wir nun beide benutzen, um anzupacken." Also auch keine schmutzigen Hände mehr - Indien ist in Kerala fast schon unangenehm sauber. (Sascha Aumüller, Rondo, DER STANDARD, 20.2.2015)