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Ein einzelner Tweet kann verheerende Konsequenzen haben

Foto: dapd/Reeves

Es ist ein sehr langer Trip für Justine Sacco: Im Dezember 2013 reist sie von New York über London nach Südafrika, um ihre Familie zu besuchen. Sacco, damals 30 Jahre alt und PR-Chefin des Medienunternehmens IAC (Daily Beast, Vimeo, OkCupid), vertreibt sich die Zeit mit Twittern: Sie erzählt ihren 170 Followern über einen Mitreisenden, der kein Deo benutzt und ein zu kaltes Gurkensandwich, das ihr Zahnschmerzen verursacht. Dann steigt sie ins Flugzeug nach Kapstadt und schickt einen schlechten Witz los: "Fliege nach Afrika. Hoffentlich bekomme ich kein AIDS. Nur ein Scherz, ich bin ja weiß!"

Aufwachen, gefeuert werden

Sacco kichert über ihren Tweet, checkt noch eine halbe Stunde ihr Smartphone und legt sich dann schlafen. "Natürlich war mir klar, dass der Witz politisch inkorrekt ist", so Sacco in ihrem ersten Interview, das sie nun der New York Times gegeben hat, "ich habe vergessen, dass ich kein Charakter auf South Park bin". Sacco versteht nach wie vor nicht, wie jemand ihren Witz wortwörtlich interpretieren konnte. Sie wollte vielmehr sehr ungeschickt darstellen, in was für einer Filterblase westliche Geschäftsleute leben, wenn sie nach Afrika reisen – als ob sie unbesiegbar und besser wären.

Chancenlos

Doch Sacco hat keine Chance, ihre Wortmeldung zu erklären. Als sie nach elf Stunden Flug in Kaptstadt landet, ist sie bereits der weltweit stärkste Twitter-Trend. Ein US-Blogger (der später selbst durch einen sogenannten Shitstorm gefeuert werden sollte) hat ihren Tweet entdeckt und an seine tausende Nutzer starke Gefolgschaft weitergeleitet. Dort multiplizierte sich die Verbreitung in Windeseile. Sacco wusste nicht, wie ihr geschah: Ihr Arbeitnehmer hatte sich offiziell bereits von ihr distanziert, Twitter-Nutzer waren zum Flughafen gefahren, um sie bei der Landung zu fotografieren. Wenig später wurde Sacco gefeuert, ihre Tante nannte sie "eine Schande".

Ein Jahr in der Hölle

Heute, mehr als ein Jahr später, hat sich Sacco einigermaßen erfangen – das vergangene Jahr bezeichnet sie allerdings als Hölle. Sie hat Gewicht verloren, Panikattacken bekommen, an Depressionen gelitten und weder einen Job noch ein Date gefunden. "Jeder googlet dich, bevor er mit dir auf ein Rendezvous geht", so Sacco zur New York Times. Ihr gesamtes Leben lag dank eines Tweets in Trümmern. Der US-Autor Jon Ronson, mit dem Sacco gesprochen hat, nennt die Geschehnisse eine moderne Hexenjagd.

Kein Einzelfall

Für ein neues Buchprojekt hat sich Ronson intensiv mit dem sogenannten "Social Media Shaming" beschäftigt und mit mehreren Personen gesprochen, für die ein Tritt ins Fettnäpfchen horrende Konsequenzen hatte. Da gibt es etwa jenen IT-Experten, der seinem Sitznachbar auf einer Konferenz einen sexistischen Witz über USB-Stecker zuflüsterte. Eine Konferenzteilnehmerin hatte den Scherz mitgehört, fotografierte den Mann und stellte ihn vor ihren zigtausenden Twitter-Followern an den virtuellen Pranger. Der Mann wurde daraufhin entlassen, allerdings rächten sich Sympathisanten, indem sie die Firma der Frau mit Cyberangriffen attackierten – woraufhin auch die Frau entlassen wurde.

Depression, Trauma

Dann gab es noch jene junge US-Bürgerin, die am Kriegerdenkmal für gefallene Soldaten in Arlington posierte. "Wir bitten um Ruhe", stand auf einem Schild – und Lindsey Stone tat so, als würde sie laut schreien. Das Bild wurde viral, plötzlich tauchten TV-Nachrichtenproduzenten an Stones Tür auf und wollten sie interviewen. Die Folge: Posttraumatische Belastungsstörung, Depressen, Schlaflosigkeit, Arbeitslosigkeit.

Pranger zu Recht abgeschafft

"Wenn der Verurteilte zuvor einen Hauch von Respekt vor sich selbst hatte, wird dieser durch das öffentliche Blamieren komplett ausgelöscht" - das schrieb die New York Times im Jahr 1867 über Maßnahmen wie das öffentliche Auspeitschen und den Pranger. Benjamin Rush, ein Arzt und Unterzeichner der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, nannte solche Formen der Bestrafung damals "schlimmer als den Tod". Es scheint, als ob mit Social Media und neuen Formen der Medienberichterstattung eine digitale Variante davon wieder Einzug in unser Leben gehalten habe, schreibt die New York Times jetzt.

Es geht um Profilierung der Empörten

Dabei ginge es oft gar nicht um die Person, die den Fehler gemacht habe, analysiert Buchautor Ronson: Vielmehr nutzen Menschen solche "Shitstorms", um sich selbst zu profilieren. Sie nehmen die Chance wahr, sich selbst als überlegen und korrekt darzustellen. Welche Kosten dabei für das Opfer entstehen – und ob die Strafe in Relation zu der Tat steht – ist dabei zusehends egal. (Fabian Schmid, derStandard.at, 15.2.2015)