Das nahe Ende eines Filmfestivals erkennt man an zwei Anzeichen: an den vielen müden Gesichtern sowie daran, dass an allen Ecken und Enden über die Wettbewerbsfavoriten spekuliert wird. Doch anders als beispielsweise vergangenes Jahr, als Richard Linklaters Boyhood Kritik und Publikum selten einhellig zu begeistern vermochte, fallen die Einschätzungen heuer dabei eher divers aus.

Andrew Haighs fein austariertes Drama um ein gesetztes Ehepaar, dessen aufrichtige Liebe Risse bekommt, als ein lange zurückliegendes Ereignis ans Licht kommt, fand gleich zu Beginn des Festivals große Zustimmung. Nicht zuletzt die beiden großartigen Hauptdarsteller von 45 Years, Charlotte Rampling und Tom Courtenay, sind Anwärter auf die Bären, die Samstagabend im Berlinale-Palast vergeben werden.

Die von US-Regisseur Darren Aronofsky angeführte Jury könnte sich aber genauso gut für Pablo Larraíns El Club begeistern, ein Drama um gefallene Priester, das mit seinem Sinn für Zwischentöne überrascht hat; oder für Jafar Panahis Taxi, dieser wendigen, einfallsreichen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Filmemachens. Wünschen darf man sich auch eine Anerkennung für Alexej Germans Jr. bildgewaltige Russland-Parabel Under Electric Clouds.

Mit Aferim! stellt Radu Jude gegen Festivalende noch eine neue Tonart des rumänischen Kinos vor. Der auf 35-mm-Film und in Schwarz-Weiß gedrehte Historienfilm führt im Stile eines pikaresken Westerns in die raue Walachei des 19. Jahrhunderts. Ein Vater und sein Sohn jagen entflohenen, als Sklaven gehaltenen Roma hinterher. Neben der handwerklichen Sicherheit des Films überzeugt auch seine Unbeirrbarkeit. In keinem anderen Film wurde herzhafter, ja rassistischer geflucht. Jude zeigt eine rückständige Gesellschaft, aus der kein einfacher Ausweg führt - auch keine Rachefantasie à la Tarantino. (Dominik Kamalzadeh aus Berlin, DER STANDARD, 14.2.2015)