Wer von unten durch das Eis auf dem Lac de Mont-riond blickt, sieht oben eine surreale Welt: Fußspuren einer bekannten Spezies, Wälder aus filigranen Nadelstrukturen, unbekannte Flugobjekte, kristalline Bauwerke ohne scharfe Konturen - alles umgeben von diffusem Dämmerlicht. Luftblasen erzeugen das einzige Geräusch, wenn sie unter dem Eis zerplatzen und davoneilen. Die meisten Winterurlauber in Morzine ziehen zwar den ungetrübten Blick auf den Mont Blanc vor, doch einige kommen auch zum Eistauchen nach Les Portes du Soleil.

Bild nicht mehr verfügbar.

Les Portes du Soleil ist eines der größten Skigebiete weltweit. Weil es auch in Frankreich immer weniger Menschen auf die Pisten zieht, werden dort bereits Alternativen wie Eistauchen angeboten
Foto: picturedesk.com/Thomas Aichinger

Die "Tore der Sonne" sind der Name eines Bergpasses in den französischen Alpen. Seit 1974 bezeichnet er zudem eine Skiregion, mit sechs Skiorten in der Schweiz und acht auf der französischen Seite. Skifahrern und Snowboardern stehen 650 Abfahrtskilometer zur Verfügung - eines der größten Skigebiete der Welt. Dennoch nimmt auch in Frankreich der Anteil der Skifahrer an der Gesamtbevölkerung stetig ab: Vor fünf Jahren waren es noch knapp über 12 Millionen, die den Sport regelmäßig ausübten, in der vergangenen Saison nur mehr rund 8,5 Millionen.

Auch deshalb richtet sich das Wintersportangebot in Les Portes du Soleil immer öfter an Gäste, die ohne Bretter unter den Füßen sein wollen. Es muss ja nicht gleich Eistauchen sein - obwohl das hier auch jenen ermöglicht wird, die sich im Tandem mit einem Tauchlehrer zum ersten Mal ins eiskalte Wasser wagen.

Ein Loch im Eis kann man vielfältig nutzen. Alain Klesse etwa behält neben der kreisrunden Öffnung im Eis mehrere Angeln auf einmal im Blick. Die Angelschnüre verschwinden im Lac de Vonnes bei Châtel. "Normalerweise angeln wir mitten auf dem See, doch jetzt bedeckt Neuschnee die Löcher, die müssen wir erst wieder herrichten. Im Moment ist es sicherer, sich in Ufernähe aufzuhalten."

Angeln mit Kettensäge

30 Zentimeter muss die Eisdecke dick sein, um sie gefahrlos betreten zu können. Die Löcher zum Eisangeln werden mit einer Kettensäge ins Eis geschnitten. An die Angelhaken kommen Mehlwürmer. Dann heißt es warten. Doch schon bald zieht Klesse mit einem geschickten Ruck einen Fisch aus dem Wasser. "Eine schöne Bachforelle, leicht zu erkennen an den typischen roten Punkten mit hellem Rand."

Bild nicht mehr verfügbar.

Der Blick auf den Mont Blanc

Sobald der Fisch auf dem Eis liegt, bewegt er sich nicht mehr. "Da es im Winter draußen kälter ist als im Wasser, gefrieren die Schuppen an der Luft und kleben zusammen, das Tier ist regelrecht gelähmt." Klesse kann dem Fisch in Ruhe den Haken aus der Lippe ziehen und ihn ins Wasser zurückwerfen, wo er sich quicklebendig davonmacht.

Naturliebhaber, die es gar nicht auf oder unter das Eis zieht, sondern in die verschneite Winterlandschaft, schnallen sich am besten Schneeschuhe - Raquettes - unter die Füße und wandern mit Dominique Maire durch das Vallée de Boutigny bei Les Gets. Der erfahrene Tourguide und ambitionierte Fotograf weiß genau, wo es sich lohnt, nach scheuer Alpenfauna Ausschau zu halten.

Aufmerksam sucht Maire durch ein solide auf einem Dreibein stehendes Fernrohr den Steilhang zur rechten Seite des engen Tals ab. Und tatsächlich - im Visier zeigt sich bald eine Gämse mit dunklen Streifen im Gesicht. Mitten im Kauen hält sie inne und starrt bewegungslos zurück. Ob sie wohl das knirschende Geräusch der Schneeschuhe gehört hat? "Auf diese Distanz empfinden die Tiere das nicht als Bedrohung", winkt Maire ab. "Haben Sie eine Pocketkamera dabei?" Er hält den Apparat vor den Sucher des Fernrohrs und schießt ein Foto von der Gämse. "Mit großen Spiegelreflexkameras funktioniert das nicht", verrät er. Ein nettes Souvenir, das man Ski fahrenden Familienmitgliedern dann in einem der Bergrestaurants zeigen kann.

Per Rikscha auf die Piste

Auf die oberen Etagen des Skigebiets von Châtel gelangen auch Fußgänger recht reinfach mit dem Sessellift, auf einem der zahlreichen Winterwanderwege oder - per Handiski. Das in den französischen Alpen überraschend beliebte Gefährt sieht aus wie ein tiefergelegter Kinderwagen auf Kufen und ist für Leute gedacht, die selber nicht Ski fahren - sei es aufgrund des Alters, eines Handicaps, einer Verletzung oder weil sie es nie gelernt haben. Die "Pisten-Rikscha" lässt sich samt professionellem Lenker sogar für ganze Tagesausflüge buchen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Naturliebhaber, die es gar nicht auf oder unter das Eis zieht, sondern in die verschneite Winterlandschaft, schnallen sich am besten Schneeschuhe - Raquettes - unter die Füße und wandern mit Dominique Maire durch das Vallée de Boutigny bei Les Gets

Julien Vesin klappt die wetterfeste Abdeckung auf: "Bitte einsteigen!" Nachdem es sich der Passagier halb liegend auf dem gepolsterten Gefährt bequem gemacht hat, schnallt ihn der Chauffeur mit Sicherheitsgurten an und zieht einen Reißverschluss zu. Das schaut ein wenig aus wie eine Kreuzung aus Strampelanzug und Zwangsjacke. Irgendwie beengt, aber sehr kuschelig. Am Sessellift wird das menschliche Paket mit einem Handgriff in Sitzposition gebracht und nach oben transportiert. Der Skiguide kümmert sich dann um den Ein- und Ausstieg.

Zwischen Schlittenfahren und Kettenkarussell

Am Berg löst Vesin die Arretierung des Sitzes, der in den Kurven frei zur Seite schwingen kann. "Wir haben die Handhabung auf einer sechstägigen Ausbildung gelernt", beruhigt er den völlig von ihm abhängigen Passagier, bevor er in rasantem Tempo die Piste hinunterbrettert. Ein Gefühl zwischen Schlittenfahren und Kettenkarussell stellt sich ein.

Echte Adrenalinjunkies warten in Portes du Soleil aber den Einbruch der Dämmerung ab. Wenn die Skifahrer die Pisten geräumt haben, ist ihre Zeit gekommen: Ausschließlich der Bespaßung dienende Kufengefährte - Yooner, Snowracer, Snake Gliss und wie sie alle heißen - machen sich auf den Weg ins Tal. Besonders Wagemutige warten ab, bis es ganz dunkel geworden ist, und rasen mit Stirnlampen abwärts - ein Haufen hüpfender Sternschnuppen auf dem Weg nach Morzine. (Gabriela Beck, DER STANDARD, 14.2.2015)