Norbert Thom: Viel Potenzial bei der Personalentwicklung.

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Warum in die Ferne schweifen? Der blick in den Betrieb lohnt...

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STANDARD: Sie raten zur personellen Schatzsuche in den eigenen betrieblichen Reihen. Worauf gründet sich Ihre Hoffnung, hier tatsächlich fündig zu werden?

Thom: Auf Erfahrung! Wer sich als Wissenschafter mit Personalführung befasst, braucht zwangsläufig den Kontakt zur Praxis. Und in der Praxis zeigt oft ein einziger aufmerksamer Gang durch einen Betrieb ganz erhebliche Unterschiede in der Einstellung zur Arbeit der einzelnen Mitarbeiter. Da gibt es unverkennbare Differenzierungen in der Art und Weise, wie sie sich bewegen, wie sie kommunizieren, wie sie mit Kollegen interagieren, wie sie mit kleineren oder größeren Problemen umgehen, wie sie auf Kritik reagieren, mit welcher Sorgfalt sie mit betrieblichem Eigentum umgehen etc. Der geschärfte Blick dafür offenbart rasch, wo denkbare aufbaufähige Potenziale schlummern. Ein weiteres Indiz dafür sind Verbesserungsvorschläge. Von wem welche und wie oft sie von einer Person kommen, macht deutlich, wo engagiert mitgestaltet und wo nur gearbeitet wird. Das soll die "Nurarbeiter" keineswegs diskreditieren, aber bei der Schatzsuche im eigenen Betrieb muss auch diese Erkenntnis eine Rolle spielen. Weitere Hinweise für persönliches Entwicklungspotenzial sind Hobbys, Ehrenämter, freiwilliges Engagement. Kurz und gut, aus meiner Erfahrung gibt es keinen Betrieb, in dem der, der sucht - frei nach Goethe "Warum in die Ferne schweifen, sieh, das Gute liegt so nah" -, nicht auch fündig wird.

STANDARD: Wie stellen Sie sich das praktisch vor? Wer muss sich da als Schatzgräber betätigen?

Thom: Wie gesagt, als permanente, sorgfältige Beobachtungsaufgabe. Zu den klassischen Vorgesetztenaufgaben gehört die Förderung der ihnen unterstellten Mitarbeiter. Mehr als je zuvor dürfen die Vorgesetzten diese Förderung nicht nur nebenbei und mit links oder aus Sorge, sich Konkurrenten heranzuziehen, auch gar nicht betreiben. Überspitzt gesagt, halte ich in der heutigen Situation nur einen Vorgesetzten für einen wirklich guten Vorgesetzten, der sich bei dieser Schatzsuche im eigenen Betrieb tatsächlich engagiert. Viel mehr als bisher muss sich im Blick auf den Engpass beim qualifizierten Personal das Bewusstsein im Betrieb durchsetzen: Ein guter Vorgesetzter hat und behält auch deshalb gute Mitarbeiter, weil er sie aufbaut, weil er starke Personen um sich herum erträgt und duldet, weil er stolz darauf ist, solche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben. Und eine weitere Bewusstseinserweiterung scheint mir im Blick auf das Notwendige unabdingbar: Vorgesetzte, die nachweislich fördern, müssen dafür Anerkennung bekommen und ihrerseits gefördert werden. Tatsache ist, dass auf dieser Ebene der "Personalentwicklung" noch ganz erhebliche Möglichkeiten darauf warten, genutzt zu werden.

STANDARD: Was gilt es dabei zu bedenken?

Thom: Grundsätzlich sollten sich Unternehmer im Hinblick auf ihre Belegschaft immer wieder vor Augen führen, dass sie in deren Reihen so manches "Ass im Ärmel" haben, so manchen "Joker" für plötzlich auftretende personelle Engpässe, das oder der nicht mühsam und oft sehr kostenaufwändig am Arbeitsmarkt erst einmal gefunden werden muss. Die angespannte Situation auf dem Arbeitsmarkt verlangt ganz einfach, den dominierenden Blick bei der Personalsuche von "außen" etwas mehr nach "innen" zu verlagern. Des Weiteren verlangt sie, Personalentwicklung im Sinne der Schatzsuche im eigenen Betrieb breiter zu fassen. Zunächst geht es um Personen, die von vornherein als zu entwickelnde Talente eingestellt wurden, zum Beispiel Vorstandsassistenten und Trainees. Darüber hinaus ist ein Testprogramm für die noch zu entdeckenden Hoffnungsträger aufzulegen. Wichtig ist zweierlei: dass diejenigen, die von ihren Vorgesetzten als hoffnungsvoll entdeckt beziehungsweise eingeschätzt wurden, zum einen auf ihre tatsächliche Entwicklungsfähigkeit und, nicht zu vergessen, Entwicklungswilligkeit hin getestet werden und zum anderen darauf, in welche Richtung Entwicklungsmöglichkeiten bestehen. Es geht also darum, sich Klarheit über das Mögliche zu verschaffen. Und dann natürlich darum, dieses Mögliche mit dem absehbaren personellen Bedarf abzugleichen. Dieser Abgleich muss sich an der strategischen und organisatorischen Ausrichtung des Unternehmens ausrichten: Welche neuen Produkte und Dienstleistungen bieten wir auf bisherigen und neuen Märkten an? Welche neuen oder veränderten Organisationseinheiten werden wir haben? Welche Fähigkeiten werden auf den Stellen in diesen Organisationseinheiten gebraucht? Was kann uns als Betrieb einen Wettbewerbsvorteil verschaffen?

STANDARD: Ist "jung" auch in der heutigen Situation noch das generell entscheidende Kriterium, um in die Kategorie "entwicklungsfähig" zu fallen?

Thom: Eindeutig "Nein". Das diesbezügliche einzig richtige Kriterium darf nur heißen: Ist der entdeckte potenzielle betriebliche Personalschatz entwicklungswillig und -fähig? Also sowohl von seiner Einsatzbereitschaft als auch von seiner Belastbarkeit her bereit und in der Lage, an sich zu arbeiten. Worauf es ankommt ist, das solche betrieblichen Hoffnungsträger von sich aus zu erkennen geben, dass sie über sich, über ihren derzeitigen Status quo hinauswachsen wollen, dass sie die Chance nutzen wollen, neue und komplexere Aufgaben zu übernehmen, dass sie sich der Aufgabe gewachsen fühlen, sich dafür ins Zeug zu legen, sich neue Kenntnisse und auch neue Verhaltensweisen zu erarbeiten. Auch in der betrieblichen Personalentwicklung gilt es, noch klarer zu erkennen, dass "jung" oder "alt" zunächst erst einmal relative Einstufungen sind. Es gibt 25-Jährige, die sind erkennbar schon uralt. Und es gibt 55-Jährige, in denen brennt noch ein Feuer, mit dem sich, bildlich gesprochen, noch so manches betriebliche Eisen schmieden lässt. Altersgrenzen sind aus meiner Sicht und Erfahrung mit Vorsicht zu genießen. Die gesamtbetrieblich geforderte Flexibilität im Persönlichen wie im Organisatorischen sollte auch im Blick auf das Alter nicht zu kurz kommen. Letztlich wichtig können aus meiner Perspektive nur zwei Fragen sein: Will jemand zu neuen Ufern aufbrechen, oder will jemand nicht? Und: Wo gehört definitiv ein jüngerer Mensch hin, und wo ist eine gewisse Berufs- und Lebenserfahrung wünschenswert?

STANDARD: Wodurch schützen sich Betriebe heute am besten vor personellen Mangelsituationen?

Thom: Präventiv handelt auf jeden Fall, wer sich a) als Arbeitgeber einen weitreichenden guten Ruf erarbeitet und b) wer sich vor Übertreibung bei der Personalreduzierung in Acht nimmt. Gutes Personal muss nicht unbedingt immer mühsam gefunden werden. Es lässt sich auch anlocken. Im Internetzeitalter spricht sich nichts schneller herum als die Realität eines Unternehmens. Und je attraktiver beziehungsweise überzeugender dieses ausfällt, desto wahrscheinlicher wird es, dass das Unternehmen vielleicht nicht beliebig aus einem überquellenden personellen Angebotstopf schöpfen kann, dass es aber spürbar weniger Mühe als andere haben wird, seinen Personalbedarf zu decken. Und hüten sich Unternehmen dann noch vor einem ganz gefährlichen zeitbedingten Fehltritt, sprich die Belegschaft so auszudünnen, dass es schon bei jeder simplen saisonalen Erkältungswelle überall knirscht, dann haben sie zwei ganz wesentliche Schritte zur Absicherung der Aufrechterhaltung ihrer Leistungsfähigkeit bei recht ausgetrocknetem Personalmarkt getan. Bei aller Sparsamkeit beziehungsweise Ertragserwartung der Shareholder sollte auf jeden Fall sichergestellt sein, dass für die bekannten betrieblichen Engpasspositionen nie aufgrund von selbst herbeigeführter Personalknappheit Besetzungsschwierigkeit auftreten. Aus "Sparsamkeitsgründen" überfordertes Personal ist weder ein positiver Meinungsträger nach außen noch ein begeisterter Mitspieler nach innen. Wie bei so manchem, was Unternehmen plagen kann, gilt auch hier der Satz: Man kann die Probleme durch unangemessene Handlungen selbst verschärfen. Vergessen wir bitte nicht: Nicht immer sind es die Umstände, die zu Schwierigkeiten führen. Häufig besorgt das die Art und Weise, wie auf die Umstände reagiert und wie mit den Umständen umgegangen wird. Augenmaß ist gefordert. (DER STANDARD, 14./15.02.2015)