Seit immer mehr Jugendliche aus Europa in den Jihad ziehen oder mit Jihadisten sympathisieren, sind "Deradikalisierung" und "Prävention" in aller Munde. Die beiden Begriffe werden in der öffentlichen Diskussion mehr oder weniger synonym verwendet, als handele es sich dabei nicht um zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze. Deradikalisierung ist klassische Krisenintervention; Hotlines und Beratungsstellen zielen auf diejenigen, die einen solchen Grad an Radikalisierung erreicht haben, dass ihr Abdriften in den Terrorismus befürchtet wird. Deradikalisierung ist die Feuerwehr, die zu löschen versucht, wenn es bereits brennt.

Prävention verfolgt das Ziel, Radikalisierung zu verhindern. Sie ist, um im Beispiel zu bleiben, der Brandschutz. Angesichts sich radikalisierender Jugendlicher ist Deradikalisierung eine notwendige und dringliche Aufgabe. Dass es so weit gekommen ist, ist liegt einerseits an einer Ignoranz gegenüber sich seit langem abzeichnenden Problemen, für deren Benennung man Gefahr lief, in die rechte Ecke gestellt zu werden, andererseits an versäumter Prävention.

Präventionsarbeit meint Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die ihnen die Werte einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft erfolgreich vermittelt und ihnen die Teilhabe an derselben ermöglicht. Der wichtigste Platz dafür ist die Schule. Aber dort mangelt es nicht nur an Schulpsychologen und an Schulsozialarbeitern, sondern auch an Ressourcen für geeignete Projekte. Weder gibt es ein verpflichtendes Fach Ethik noch ein eigenes Fach Politische Bildung, in denen Werte und Grundlagen moderner demokratischer Gesellschaften, deren Geschichte und Wirkung vermittelt und diskutiert werden könnten.

Auch im außerschulischen Bereich gäbe es eine Menge Präventionsprojekte, die zum Teil im Ausland bereits erfolgreich laufen. Beispielhaft ist etwa das deutsche Projekt Heroes. Es zielt auf das Aufweichen tradierter Geschlechterrollen und autoritärer Erziehungsvorstellungen in konservativen muslimischen Familien; es geht dabei um alternative Sichtweisen und Konfliktlösungen jenseits von Gewalt und damit um die Chance, Jugendliche gegen jihadistische Werbung zu wappnen.

Präventionsprojekte haben in Zeiten hektischer Betriebsamkeit einen Nachteil: Sie benötigen Zeit. Schnelle Erfolge sind nicht zu erwarten, sie lassen sich nicht als unmittelbare Jihadismusbekämpfung verkaufen. Prävention scheint nicht sexy genug. Ahmad Mansour, einer der Projektleiter von Heroes, antwortete einmal auf die Frage, was nötig sei, um erfolgreiche Präventionsarbeit zu leisten: "Politischer Wille und das damit verbundene Geld." Schaut man sich die Reaktion auf die Anschläge von Paris an, könnte man am politischen Willen zweifeln: 300 Millionen Euro stehen für die Nachrüstung der Polizei bereit - 150.000 Euro für Workshops zur Deradikalisierung und (!) Prävention. Statt dem Terror gesellschaftlich vorzubeugen, stehen wir mit Panzern bereit, wenn er kommt. (Heiko Heinisch, DER STANDARD, 12.2.2015)