Die maximal zehn Zentimeter große Islandmuschel mit grauer oder brauner Färbung wirkt äußerlich betrachtet recht unspektakulär. Die extrem anpassungsfähige Muschel kann aber mehrere hundert Jahre alt werden und gilt als biologisches Erfolgsmodell.

Foto: Erlendur Bogason

Mainz - Die Datenträger bestehen keinesfalls aus Kunststoff oder Silizium, sondern überwiegend aus Aragonit. Biologische Keramik, aufgebaut aus zahllosen kalkigen Kristallen. Darüber hinaus ist das Material in Schichten angeordnet. Jede davon enthält verschlüsselte Angaben über die vorherrschenden Umweltbedingungen. Eine einzigartige Datensammlung.

Die Erfasser der Informationen sind Islandmuscheln, zoologisch Arctica islandica genannt. Die Tiere gelten unter Klimaforschern gewissermaßen als die Bäume des Meeres. Der Hintergrund: Die Weichtiere können ein geradezu biblisches Alter erreichen und bilden im Lauf ihres Lebens in ihren Schalen beständig neue Jahresringe aus. Je besser die Verhältnisse, desto dicker die Ablagerung. Ein 2006 gefangenes Exemplar trug gar 507 Schichten in seiner Hülle. Es kam demnach 1499 zur Welt - nur sieben Jahre nach der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus.

Ihre Besonderheit sieht man A. islandica allerdings nicht an. Mit maximal zehn Zentimetern Länge gehört sie zwar zu den größeren europäischen Muschelarten, ist aber keine Riesin. Auch die graue oder braune Färbung wirkt unspektakulär. Die Tiere sind getrenntgeschlechtlich und erlangen erst nach acht bis 15 Jahren die Fortpflanzungsreife. Spermien und Eizellen werden in großer Zahl ins Meerwasser abgegeben. Dort erfolgt anschließend die Befruchtung. Die später schlüpfenden Larven leben einige Zeit freischwimmend, bevor sie sich am Boden niederlassen.

Islandmuscheln bewohnen nicht nur die Küstengewässer der gleichnamigen Insel. Sie kommen auch um Spitzbergen, in den Seegebieten zwischen dem Weißen Meer und der Bretagne sowie an der Nordostküste Nordamerikas vor. In einigen Regionen werden die Tiere von Menschen gerne als Meeresfrüchte verspeist. Natürliche Feinde hat A. islandica jedoch nur wenige. Junge Exemplare fallen oft Dorschen und anderen weichtierfressenden Fischarten zum Opfer, den Älteren dagegen verleihen ihre massiven Schalen ausreichenden Schutz. Lediglich der sogenannte Steinbeißer, ein bis zu anderthalb Meter langer Raubfisch, ist mit seinem Spezialgebiss in der Lage, sie zu knacken.

Die mittlere Lebenserwartung der Muscheln kann dennoch erheblich schwanken. Der Geowissenschafter Bernd Schöne von der Universität Mainz hat zusammen mit einigen Kollegen das Alter von insgesamt 51 A.-islandica-Schalen aus verschiedenen Teilen der Nordsee untersucht.

Stress durch Wärme

C14-Datierungen zeigten, dass manche davon sogar aus dem 11.-14. Jahrhundert stammen. Den Ermittlungen nach variierte das durchschnittlich erreichte Alter der Tiere im Verlauf des letzten Jahrtausends zwischen 49 und 184 Jahren. Während der Kleinen Eiszeit vor rund 450 Jahren lag sie deutlich höher als zur mittelalterlichen Wärmeperiode. Islandmuscheln mögen es eher kühl, sagt Schöne. Steigende Wassertemperaturen lösen vermutlich physiologischen Stress aus. Abgesehen davon können die Planktonvermehrung und somit das Nahrungsangebot negativ beeinflusst werden. Vor Island jedoch führt der Zustrom von wärmerem Wasser aus dem Süden zum gegenteiligen Effekt - solche Unterschiede, gilt es zu berücksichtigen.

Um die kalkigen Datensätze auszuwerten, fertigen die Forscher dünngeschliffene Querschnitte der Schalenklappen an und unterziehen diese einer chemischen Behandlung. Anschließend können die Jahresringe durchs Mikroskop gezählt und vermessen werden. Der Schalenzuwachs unterliegt einem ausgeprägten Rhythmus, sagt Schöne.

Die erste Phase beginnt im Winter und hält bis zum Spätsommer an. "Im Herbst setzt das Wachstum dann aus." In flacheren Gewässern passiert dies irgendwann im September, in der Tiefe rund zehn Wochen später. Die Pause hält etwa zwei Monate an. Der Zyklus wird vermutlich durch eine innere Uhr gesteuert, meint Schöne. Einen Zusammenhang mit der Fortpflanzung scheint es allerdings nicht zu geben.

Instabile Strömungen

Dem Wert der Muscheln als Klimadaten-Speicher tut diese offene Frage keinen Abbruch. Das Mainzer Team hat neulich eine vergleichende Analyse von instrumentellen Messwerten und dem Schalenwachstum nordisländischer A. islandica vorgelegt - mit guten Ergebnissen. Periodische Temperaturveränderungen wirken sich dort offenbar vor allem bei instabilen Strömungsverhältnissen klar nachvollziehbar aus.

Die Weichtiere geben allerdings nicht nur durch die Breite ihrer Jahresringe Auskunft über die vorherrschenden Bedingungen. Auch die in den Schalen eingeschlossenen Stoffe bieten wertvolle Informationen. Änderungen im Gehalt des Sauerstoff-Isotops 18O zum Beispiel ermöglichen zusätzliche Einblicke ins Klimageschehen. Bei anderen Untersuchungen ließen sich sogar mittelalterliche Umweltbelastungen durch Blei aus der damaligen Metallverarbeitung nachweisen.

Welche ökologischen Vorteile die Spezies durch ihre extreme Langlebigkeit erlangt, ist momentan noch unklar. Der langsame Generationswechsel bedeutet schließlich auch, dass der Evolutionsprozess nur träge wirken kann. Das erschwert die Anpassung an Veränderungen. Die hohe Fortpflanzungsrate könnte zudem die innerartliche Konkurrenz verstärken. In diesem Fall hieße das: Die Alten bringen den Nachwuchs um dessen Perspektiven.

Doch anscheinend hat sich A. islandica schon vor langer Zeit optimiert. Man findet sie in Tiefen von vier bis 500 Metern, in schlammigen wie in grobsandigen Böden. Auch periodischer Sauerstoffmangel wird gut verkraftet. Die hartschaligen Methusalems sind offenbar ein biologisches Erfolgsmodell. Fossilienfunden zufolge gab es die Gattung schon im Jura-Zeitalter, sagt Schöne. Vor mehr als 135 Millionen Jahren. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 11.2.2015)