Ihr Heimatland kennt Senia Abderahman nur aus den Erzählungen ihrer Großmutter. Es sei grün dort, und die Luft so rein. Selbst war die 25-Jährige noch nie in der Westsahara, die seit 1976 von Marokko besetzt wird. Ein 2.200 Kilometer langer Sandwall, umgeben von einem der weltweit größten Minenfelder, trennt das Land in die besetzte Zone im Westen und die im Osten liegende Zone der Polisario – der Freiheitsbewegung Westsaharas, die für die Rechte der Sahrauis kämpft.

Abderahman wurde in einem der Flüchtlingslager der Sahrauis in der algerischen Wüste geboren, ihre Mutter war zwölf Jahre alt, als die marokkanische Armee in die ehemals spanische Kolonie einmarschierte. Die junge Frau war die erste Sahraui, die in Norwegen und den USA studieren durfte, schreibt sie in einem Bericht für das Norwegian Refugee Council. Sie sei erschrocken gewesen, wie wenig die Menschen im Westen über die Situation ihres Landes wissen.

Der westliche Teil der Westsahara wird von Marokko besetzt. Ein Sandwall trennt ihn von der östlichen Seite, die von Polisario kontrolliert wird.

Als die Westsahara 1975 ihre Unabhängigkeit von Spanien erlangte, erhob Marokko Gebietsansprüche – das Land sei bereits lange vor der Kolonialisierung ein Teil von Marokko gewesen. Diese Ansprüche wiesen die Vereinten Nationen noch im selben Jahr zurück. Marokko hinderte das nicht daran, Ende 1975 mit der Armee einzumarschieren und rund 350.000 Marokkaner in dem Gebiet anzusiedeln.

Ein von den Vereinten Nationen gefordertes Referendum über die Unabhängigkeit des Landes aus dem Jahr 1991 wurde von Marokko abgelehnt – oder nur angenommen, wenn die Frage zur Souveränität gestrichen wird. Das Land selbst existiert aber auch ohne die Zustimmung der Besatzer. Im Jahr 1976 gründete Polisario die Arabische Republik Sahraui (siehe Karte oben). Der Staat wurde mittlerweile von rund 80 Ländern der Welt anerkannt und ist vollwertiges Mitglied der Afrikanischen Union.

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Eine Sahraui-Frau in einem der Lager im Osten des Landes, der von Polisario kontrolliert wird.
Foto: EPA/MOHAMED MESSARA

In den Flüchtlingslagern merkt man von der Unabhängigkeit wenig. Alleine 165.000 Flüchtlinge aus der Westsahara leben im Nachbarland Algerien, die Hälfte von ihnen in Lagern, die von den Geflohenen selbst organisiert werden und Unterstützung der internationalen Gemeinschaft erhalten. Es bedarf aber "größter Anstrengungen", die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen, sagt der UNHCR-Vertreter in Algerien, Ralf Grünert. Das Ernährungsprogramm für das zweite Halbjahr 2015 sei zudem noch nicht gesichert. Selbst versorgen können sich die Sahrauis nicht. "Nur zehn Prozent der Nahrung, die die Menschen benötigen, können sie selbst anbauen", sagt Richard Skretteberg vom Norwegian Refugee Council.

Die "letzte Kolonie Afrikas", wie Skretteberg die Westsahara nennt, steht im Spannungsfeld der Interessen westlicher Mächte. Im Gegensatz zu Portugal, das Verantwortung bei der Unabhängigkeit Osttimors gegen Indonesien übernommen hatte, hält sich die ehemalige Besatzungsmacht Spanien aus der Krise heraus, Frankreich blockiert bei den Vereinten Nationen eine Ausweitung des Mandats der UN-Mission MINURSO auf die Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen. Bis dato bezieht sich das Mandat auf die Überwachung des Waffenstillstands, den Austausch von Gefangenen und die Abhaltung eines Referendums.

Weder Spanien noch Frankreich will die Beziehungen mit Marokko aufs Spiel setzen. Die Besatzungsmacht selbst beutet die fischreichen Gewässer vor der Küste Westsaharas aus, obwohl die Ressourcen eines besetzten Landes ohne die Zustimmung der Bevölkerung nicht genutzt werden dürfen. Zudem werden Öl- und Gasvorkommen auf dem Gebiet des Staates vermutet.

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Sahraui-Männer in Tifariti, im Südwesten Algeriens.
Foto: REUTERS/Juan Medina

Der ehemalige Kommandeur der UN-Mission, Kurt Mosgaard, kritisierte nach Ende seines Einsatzes 2007 in Medien immer wieder das Vorgehen der internationalen Gemeinschaft vor Ort. Der Däne war es auch, der die marokkanische Flagge nach 16 Jahren auf dem UN-Hauptquartier in der Westsahara entfernen ließ. "Die Vereinten Nationen stellen klar, dass die Westsahara ein Territorium ist, dessen Status ungeklärt ist. Also ist es inakzeptabel, dass die marokkanische Flagge über dem UN-Gebäude weht. Das verstößt direkt gegen unser Mandat", wird Mosgaard in einem Bericht des Norwegian Refugee Council zitiert.

Die Vertreter der Hilfsorganisationen vor Ort sind sich einig, dass ein Referendum über die Unabhängigkeit durchgesetzt werden muss. Bereits 1992 begannen die Vereinten Nationen die Wahlberechtigten Sahrauis zu suchen. Doch anstatt weniger Wochen dauerte es acht Jahre, um die Listen zusammenzutragen. Schlussendlich wurden die Wahlberechtigten von Marokko abgelehnt, die Wählerregister verschwanden in Stahlkisten in Genf und wurden bis heute nicht mehr hervorgeholt.

Bereits drei Generationen von Sahrauis leben außerhalb ihres Heimatlandes in Flüchtlingslagern, 100.000 bis 150.000 befinden sich in der besetzten Zone – gemeinsam mit 160.000 marokkanischen Polizisten und Soldaten. Die Langwierigkeit des Konfliktes zehrt an den Nerven der Menschen, sagt Grünert: "Die Jugendlichen haben keine Zukunftsperspektive und werden immer frustrierter." Gleichzeitig bewundere er aber den Willen der Menschen, weiterzumachen. Dem stimmt auch Skretteberg zu: "Polisario hat es bis dato geschafft, radikale islamistische Tendenzen aus der Unabhängigkeitsbewegung rauszuhalten, indem sie mit den Menschen in den Lagern sprechen." Er ist sich aber nicht sicher, wie lange das noch gelingen wird. "Es ist im Interesse der gesamten Welt, dass dieser Konflikt gelöst und nicht gewalttätiger wird", sagt Skretteberg.

Bis dahin werden die Sahrauis weiter um ihr Recht auf Rede- und Demonstrationsfreiheit kämpfen, dass ihnen von Marokko verwehrt wird. Abderahmans Großmutter hat ihrer Enkelin beigebracht: "Die Marokkaner mögen Waffen, Gewehre und Flugzeuge haben, aber wir Sahrauis haben Geduld und Entschlossenheit." (Bianca Blei, DER STANDARD, 20.2.2015)