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Alexis Tsipras (rechts) mit dem Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz (links).

Die Rede ist fast nur von Schuldenraten und Geldtranchen, von der Eurorettung und der Frage, ob Griechenland, Land des Linksrucks und dadurch Gottseibeiuns der Befürworter von Austeritätspolitik, in der Eurozone bleiben will und wird (obwohl dies der neue griechische Premier Alexis Tsipras bereits mehrfach betont hat). Von dem deutschen Beharren auf griechischen "Reformzielen" wird berichtet – und von den hartnäckigen griechischen Versuchen, die Voraussetzungen, unter denen diese Ziele angepeilt werden sollen, zu verändern.

Aber wer, bitte, redet von der Lage der ganz normalen Griechinnen und Griechen? Wer berichtet darüber, welche Erwartungen und Hoffnungen auf soziale Erleichterungen sie hegen? Wie der Sozialstaat, der in dem Land am Peloponnes schon vor dem Schulden-, Wirtschafts- und Spardesaster große Lücken auswies und in den vergangenen drei Jahren dann kahlgeschlagen wurde, wieder repariert und, vielleicht gar, optimiert werden soll?

Europas Beitrag

Wo ist zu erfahren, welche Maßnahmen gesetzt werden müssen, um dies zu bewerkstelligen? Was es dazu konkret braucht, strukturell ebenso wie finanziell? Was Europa, seine Politiker und alle Europäerinnen und Europäer dazu beitragen können?

Tatsächlich vermitteln viele Griechenland-Berichte in deutschsprachigen Medien, wie Robert Misik in seinem aktuellen Videoblog richtig schildert, die Impression, rund um das Land werde derzeit DKT gespielt. Als würden die Player – Tsipras und der griechische Finanzminister Yiannis Varoufakis auf der einen, Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble, weitere führende EU-Politiker sowie Vertreter der von Griechenland massiv abgelehnten Troika auf der anderen – am Verhandlungstisch um etwas ringen, was mit dem Leben der Europäerinnen und Europäer wenig zu tun hat. Um Politik eben, die vielen Bürgerinnen und Bürgern absolut fremdbestimmt erscheint.

Verfälschter Eindruck

Dieser Eindruck ist höchst verfälscht, denn der Konflikt, der derzeit um Griechenland ausgetragen wird, betrifft einen Kernbereich des europäischen Politikverständnisses: einen, der vor dem Einbruch reiner Austeritätskonzepte als Reaktion auf die Weltspekulations-, Weltschulden- und Weltwirtschaftskrise jahrzehntelang hochgehalten worden war. Die Rede ist vom Sozialstaat europäischer Prägung, mit der ursprünglichen Aufgabe, zum Nutzen aller Staatsbürger die ärgsten Härten des freien Marktes kapitalistischer Prägung abzufedern. Später, in den 1960er- bis 1980er-Jahren, dienten sozialstaatliche Konzepte dann gar, allgemeiner, dazu, in Europa mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu erreichen.

Dieser Sozialstaat mit seinen Absicherungen vor Arbeitslosigkeit und Krankheit, seinen Mitteln, um Bildung zu demokratisieren, und vielem mehr ist seit Beginn der Weltwirtschaftskrise 2009 massiven Angriffen ausgesetzt. Von neoliberal orientierten Budgetsanierern werden Sozialleistungen wie Wildwuchs behandelt, den man abholzen kann. Dazu kommen Privatisierungstendenzen, etwa bei der Absicherung vor Krankheit: für Bessserverdienende keine schlechte Idee, aber für Bezieher kleiner Einkommen schlicht unbezahlbar.

Eine Million ohne Einkommen

In Griechenland fand dieser Angriff in den vergangenen drei Jahren bis zum Exzess statt: Inzwischen haben rund 2,5 Millionen Griechinnen und Griechen (von insgesamt rund elf Millionen Einwohnern) keine Krankenversicherung mehr, weil sie ihren Job verloren haben und vom Arbeitslosengeld ausgesteuert wurden. 2012 lebten eine Million Griechinnen und Griechen in Haushalten ohne jedes Einkommen; ihre Zahl ist seither weiter gestiegen.

Das wieder zu ändern, also den betroffenen Griechinnen und Griechen einen Weg aus Armut und Verelendung zu weisen und den anderen mehr soziale Sicherheit zu gewähren ist die Herausforderung, vor der die neue, linke griechische Regierung steht. Vor derselben Herausforderung stand auch ihre Vorgängerin, doch sie unternahm in diese Richtung nichts. Wenn Tsipras also um Erleichterung des Schuldendienstes für sein Land verhandelt, so verhandelt er um die Ressourcen für eine solche sozialstaatliche Trendumkehr. Das geht alle EU-Bürgerinnen und -Bürger, alle Europäerinnen und Europäer an, sofern sie sich nicht zu den Reichen rechnen können. (Irene Brickner, derStandard.at, 3.2.2015)