Ich bin seit drei Tagen in Split. Meistens schleicht sich der Krieg an. Manchmal springt er zwar plötzlich los wie Hitler auf Stalin und macht schon am ersten Tag Tausende tot. Doch im Fall Kroatiens schleicht sich der Krieg an. Und dann ein. Erst sterben nur Einzelne, dann die vielen.

Lock 'n' Load!

"Es wird Zeit, dass du nach Brač fährst. Sofort. Dort ist es sicherer. Ich komm noch mit bis zur Fähre." Während er spricht, lädt Josip die Pistole seines Vaters und steckt sie in den Hosenbund. Sein Hemd und der wachsende Bauch verbergen nun, dass Josip ein bewaffneter Mann ist. Er sieht mich an und weiß, was ich denke. Ich denke, dass ich zum ersten Mal im Leben in einer Situation bin, die ich nur aus Büchern und Filmen kenne: In der Ferne fallen Schüsse, es stinkt zum Himmel nach Krieg, zwei Männer gehen aus dem Haus, einer ist bewaffnet. Im Film aber, so weiß ich, ist es eine Regel, dass eine gezeigte Pistole früher oder später auch feuert. Das macht mir Angst.

"Keine Sorge!"

Josip klopft auf den Unterbauch, da, wo die Pistole ist. Er grinst wie der 16-jährige Junge, der er ist, als wir Freunde werden. Und als ob er eine Wasserpistole in der Hose stecken hat in der Absicht, einem Kumpel damit einen Streich zu spielen. Doch wir sind Anfang 30, die Schüsse vor der Kommandantur sind ganz real und nicht allzu fern von uns.

"Das ist nur zur Sicherheit. Falls jemandem dein Akzent nicht gefällt."

Für wen die Glocken läuten

In Kroatien streitet man noch immer, wer der erste Tote des Heimatkrieges ist: Josip Jović, ein Kroate, oder Goran Alavanja, ein (kroatischer) Serbe. Als sie von (kroatischen) Serben erschossen werden, tragen beide die Uniform der kroatischen Polizei. An diesem 6. Mai 1991 in Split stirbt jedenfalls noch ein Uniformierter. Sein Name ist Sašo Gešovski, er ist Mazedonier, trägt die Uniform der Jugoslawischen Volksarmee und stirbt den dummen, sinnlosen Tod einer minderen Schachfigur. Eine Kugel, von der bis heute niemand weiß, wer sie abfeuert, tötet ihn während eines kurzen Schusswechsels zwischen Demonstranten und Soldaten. Sašo ist am Tag seines Todes erst 19 Jahre alt, der Himmel ist wolkenlos, die Sonne brennt heiß auf Split. Im TV sehen wir den Tumult. Die kurze Schießerei und das Brüllen der Menge vor dem Gebäude der Kommandantur können wir durch die geöffneten Fenster von Josips Wohnung hören. Auf dem Bildschirm sehen wir auch den großgewachsenen Demonstranten, der versucht, einen Soldaten aus einem Radpanzer zu zerren. Wir sehen, dass der junge Soldat weder aus noch in den Panzer kann. Nun zerren zwei Demonstranten an seinem Kopf, dann noch zwei. Josip schaltet das TV-Gerät ab. Nun ist nur noch das Skandieren der Demonstranten zu hören, bis Josip auch das Fenster schließt. Dann nimmt er eine handvoll Patronen und steckt sie in die Hosentasche.

Auf der Straße hören wir das Gebrüll vor der Kommandantur wieder. Für die Menge dort ist die Armee der Feind, und die Armee ist irgendwie serbisch, also ist der Feind irgendwie jeder Serbe. Und mein Akzent ist eindeutig: Kind aus Beograd, der Hauptstadt des Bösen. Die Vorboten der Brise, die später einsetzen wird, um die Stadt abzukühlen, heben Josips Hemd vom Bauch, sodass ich den Griff der Pistole sehen kann, als er sich noch einmal zu mir umdreht.

"Am besten, ich rede, und du hältst dein Četnik-Maul. Sei einfach der kleine Švabo, der du im Herzen bist, und red nur, wenn es sein muss – und zwar auf Deutsch!"

Das ist unser Vorkriegs-Running-Gag. Ich bin der Verräter an der Volksrepublik und der Arbeiterklasse, ein fahnenflüchtiges Emigrantenschwein, ein Kollaborateur des verfluchten Besatzers, eine verkaufte Seele, ein Četnik und Kroatenfresser. Der Četnik und der Kroatenfresser kommen erst in den letzten zwei Jahren in Mode, analog zur Entwicklung im berstenden Jugoslawien. Doch an diesem Tag in Split bin ich für die meisten Einwohner der Stadt genau das: ein Četnik und Kroatenfresser. Doch Josip hat einen Plan.

"Hier ist, was du tun musst, falls es ungemütlich wird: deeskalieren! So: Du winkst mit deinem österreichischen Reisepass und brüllst: Ich austriakischen! Ich demokratischen! Frii sprech is gut! Kommunistischen schtonk! Tito kaputt!"

Josip ahmt die deutsche Sprache nach, wie er es von Charlie Chaplin kennt. Seine Version von "Lili Marleen" in Chaplin-Deutsch verursacht uns in betrunken-bekifften Nächten stets einen Bauchkrampf vom Lachen. Also lachen wir auch jetzt, während Josip das flatternde Hemd zähmt, damit niemand den Pistolengriff sehen kann. Guter Plan!

Gespenster arbeiten nicht

Drei Tage zuvor lande ich in Zagreb. Während ich auf den Flug nach Split warte, gehe ich zur Radarzentrale, hoffend, mit Kollegen, die ich aus meiner Zeit als Fluglotse in Wien kenne, das Warten zu verkürzen. Doch der Portier schüttelt nur den Kopf oder sagt knapp zu jedem der Namen, die ich ihm nenne: "Arbeitet nicht mehr hier." Zehn Minuten später halten mich zwei Polizisten auf und überprüfen meinen Reisepass und das Ticket nach Split. Sie deklamieren alle Namen, die ich kurz vorher dem Portier nenne, und wollen wissen, warum ich nur nach Serben frage. Ich merke, dass sie lediglich wegen meines österreichischen Reisepasses halbwegs höflich sind. Als sichergestellt ist, dass ich kein serbischer Spion bin, gehen sie grußlos.

In Split holt mich Josip vom Flughafen ab. Wir fahren in seinem klapprigen Zastava 101, und er erzählt mir von seinem neuen Job als Fahrer für Kühltransporte mit Fischen. Zwei Mal in der Woche rast er mit einem Kleintransporter von Split nach Rijeka und bekommt 100 Mark pro Fuhre. Auf einem Schleppnetzboot, die hier Koča genannt werden, bekommt man mehr, aber Josip will keine Woche oder gar zehn Tage in einer immer feuchten Koje schlafen. So macht er manchmal 1000 Mark im Monat, hat immer ein volles Einmachglas mit Gras und daher jedes Wochenende einen Anlass für eine Party. In den letzten Wochen ist das Geschäft aber etwas lau und die Partys sind weniger geworden.

Nachdem wir in der Kühle seiner Wohnung die Beine strecken, nachdem das erste Bier unsere Kehlen herabrinnt und nachdem ein Spliff für die sanfte Landung sorgt, befällt uns eine Art feeding frenzy nach sinnlosem Rausch, wie ihn sonst nur pubertierende Maulesel zelebrieren. Vielleicht ist es der Gestank, den die Leiche Jugoslawiens verbreitet. Vielleicht unser beider Ahnung, das Etwas kommt, um solange zu toben, bis alles anders wird und nie wieder so, wie vorher. Und dieses Etwas ist größer als wir und da ist nichts für uns zu tun, um es aufzuhalten. Wir können nur davonlaufen oder, als Filmhelden verkleidet, grimmig grinsend auf uns zukommen lassen, was auch immer da aus der Dunkelheit hervorspringen mag. Dann fällt uns die dritte Option ein.

Kriegsration

Die nächsten zwei Tage sind wir nur damit beschäftigt, Josips Vorrat an trinkbarem Gut zu vernichten. Auch sämtliche Reserven, Notreserven und sogar die "Kriegsration", wie Josip seine allerletzte, Super-Notreserve Single Malt nennt. Diese Ration versteckt Josip in einem kleinen Sanitätskasten der Volksarmee. Neben dem Whiskey ist auch eine Handvoll kleiner, gelber Tabletten in einem Plastikbeutel. Josip zeigt auf den Whiskey.

"Gegen Infektion! Gegen Demoralisierung! Und zum Nachdenken und Diskutieren über strategische und taktische Optionen!"

"Und das?" Ich zeige auf die Tabletten.

"Wenn alles andere aus ist! Damit schläfst du ein paar Tage, bis alles wieder gut ist!"

Wenn man mich heute fragt, was genau in den nächsten 72 Stunden geschehen ist, erzeugt das nur das Bild eines Breis in meinem Kopfkino. Darin ist das lachende Gesicht von Josip, mein lachendes Gesicht in einem der verzogenen Spiegel, das gierige Aufessen von Doseninhalten, eine Kette aus gegenseitigem "Erinnerst du dich an …?", "Was wurde aus …?", und immer wieder das unvermeidliche, weil allzu deutliche "Was, wenn der Krieg doch kommt …?".

Reality und TV

Josip öffnet zum ersten Mal seit meiner Ankunft die Fenster. Dann schaltet er das TV-Gerät ein, und wir landen in der Realität. Die zuerst aussieht wie ein Zombiefilm, den wir nicht kennen und in den wir zufällig reinzappen. Vor der Kommandantur, nur wenige Häuserblocks von Josips Wohnung entfernt, stürmt, was uns wie eine Zombiemeute erscheint, einen Radpanzer der Volksarmee und versucht dem Turmschützen den Kopf abzureißen. Dann fallen die Schüsse, oder umgekehrt, erst Schüsse, dann Zombiemeute – ich weiß es nicht mehr. Die Schüsse hören wir jedenfalls in verzögertem Stereo, erst "live" aus dem Fenster, dann aus dem TV-Gerät. Hier hört mein Kopfkino auf, ein Brei zu sein. Die Bilder sind nun kristallklar. Und die Gedanken. So kristallklar wie die einzig wahre Antwort auf die Frage, was passiert, wenn der Krieg doch kommt. Sie lautet: Ich nehme mein Flugticket und meinen österreichischen Reisepass und winke damit dem Krieg zum Abschied. Vielleicht sage ich noch: "Krieg schtonk! Ich demokratischen! Ich aufwiedersehen!"

Doch Josip hat kein Ticket, und sein Reisepass bringt ihn höchstens in ein Flüchtlingslager. Und weil so ein Lager nichts für einen Mann wie Josip ist, das weiß ich, wird Josip hierbleiben und aus erster Hand erfahren, was passiert, wenn der Krieg doch kommt. Und deswegen sage ich Josip, dass ich zumindest die nächsten drei Wochen hierbleiben will. Doch Josip kramt stumm in einer Schublade. Weil es zu meiner dummen Pathetik nichts zu sagen gibt. Es macht keinen Unterschied, wenn ich bleibe. Im Gegenteil, ich werde zu eine Sorge mehr für Josip. Dann holt er die Pistole seines Vaters und zwei Schachteln mit Munition aus der Lade.

"Es wird Zeit, dass du nach Brač fährst. Sofort ..."

Wer ohne Sünde ist ...

Auf der Fähre halte ich Ausschau nach bekannten Gesichtern. Früher ist es für mich ein freudig-aufgeregtes Vorspiel auf Sutivan. Weil die Fähre in Supetar anlandet und von dort die Busse zu allen Dörfern auf Brač abfahren, sind die Stivanjani eine Minderheit, die es zu finden gilt. Ist ein angenehm bekanntes Gesicht gefunden, folgt Geplaudere, ein-zwei Bier und vielleicht sogar eine unerwartete Mitfahrgelegenheit bis nach Sutivan. Heute habe ich Angst, ein dummer oder böser Stivanjanin würde mich erkennen und als Serben outen. In meinem Kopfkino sind noch immer die Zombies auf dem Radpanzer. Keine meiner bisherigen Landungen im Mikrokosmos Sutivan ist von Angst gerahmt und nur selten bin ich so zugedröhnt wie heute. Sonnenbrille, Schirmmütze, Blick zum Boden. So hole ich zwei Biere und gehe aus dem Salon auf das offene Deck, wo niemand sein will, weil die Brise nun böig und kühl über das Meer nach Split fegt. In Supetar steige ich mit den Letzten der Passagiere aus, warte noch eine Weile am Kai bis alle potenziellen Bekannten, seien sie gut, dumm oder böse, ihren Weg nach Sutivan nehmen. Danach warte ich noch eine Stunde auf den Autobus. Als er endlich abfährt, bin ich etwas nüchterner aber auch dem Schlaf näher.

Sutivan ist wie immer im Frühling. Alles, was dem Tourismus dient, ist geschlossen oder wird geputzt, renoviert, ausgemalt. Mancher Stivanjanin winkt, während ich vorbeigehe, mancher gibt mir die Hand, wir wechseln ein paar Worte.

"Schöne Scheiße da in Split!", sagt Jure.

"Ich habe einen Sohn bekommen!", sagt Pere.

"Was für ein Krieg! So ein Unsinn! Geht lieber alle die Polster waschen, bevor die Touristen kommen", sagt Boro, der die Bar Marina betreibt.

"Der Winter war Scheiße! Ich hab zehn Lämmer verloren!", sagt Ciko, der nur Pastir genannt wird, was Hirte heißt.

"Was ist los? Gefällt's dir in Österreich nicht mehr?", frag Šteka und gibt mir lachend die Hand.

Bald biege ich um die letzte Kurve vor der Majakovac-Bucht, bin beim alten Schlachthaus, das halb über dem Meer gebaut ist, gehe den steilen Weg hinauf, der auf den Hügel des heiligen Vinzenz von Ferrara führt, an dessen Talsohle unser Haus steht. Dann sehe ich die große alte Pinie und das rote Dach. Ich bin so müde, dass ich nur die Wasserleitung aufdrehe und Strom einschalte. Danach falle ich einfach ins Bett und warte auf die Dunkelheit.

Und am Ende dieses Tages macht mich das froh, was mich im Film enttäuscht: Die gezeigte Pistole feuert nicht. (Bogumil Balkansky, daStandard.at, 29.1.2015)