"Europa schafft sich ab!" Ich kann das Gejammer und Gezeter nicht mehr hören. Wo doch die Frage lautet: Was stimmt denn nicht mit Europa? Wo kommen das Missbehagen, das mulmige Gefühl, der Unmut über dies und das denn her?
Könnte es sein, diese Annahme, träfe sie zu, wäre die wirkmächtigste, dass Europa, bleiben wir für jetzt einmal bei diesem verschwommenen, nur scheinbar so handhabbaren Begriff, dass Europa sich ideologisch vergaloppiert hat und nun vor dem Dilemma steht: Bleibe ich mir und meinen Grundsätzen treu, droht mir Schlimmes herauf. Lasse ich meine Grundsätze aber fahren, verliere ich mich dann nicht selbst?
Die ideologischen Grundlagen Europas sind einerseits im Christentum beschlossen, andererseits im laizistischen Programm der Französischen Revolution. Die Utopie des Christentums heißt Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Brüderlichkeit, die der Französischen Revolution Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die Programme haben, wie man sieht, insbesondere den brüderlichen Umgang mit den Mitmenschen gemeinsam. Halten die Christen an Gott als Urgrund aller Sinnhaftigkeit fest, tritt bei den Revolutionären ein später heiß umkämpftes Humanum an dessen Stelle, ursprünglich einfach die vergottete menschliche Vernunft. (Wo diese Vernunft uns zwischenzeitlich auch hingeführt hat, ist bekannt.)
Kindesweglegungspolitik
Europa sieht sich heute einerseits mit Überalterung, andererseits mit stetig anwachsender Migration konfrontiert. Die früheren Kolonien und Satrapenstaaten, ich denke da insbesondere an den Mittleren Osten, an die südlichen Mittelmeeranrainer, die die Europäer, lächerliche Interventionen à la Libyen einmal überblättert, mehr oder weniger ihrem Schicksal überlassen haben, rasseln ins Chaos. Die Folgen der europäischen Kindesweglegungspolitik reichen weit nach Afrika hinein, nach Afghanistan und Pakistan andererseits, die Destabilisierung ist total.
Exkurs: Das römische Imperium mit seiner ingenieurmäßigen Zivilisation aus Recht, Straßen- und Städtebau und Militär, begann in dem Moment zu zerfallen, als es die Kraft verlor, dieses, sein ureigenstes Programm, länger aufrechtzuerhalten. Das römische Programm war expansiv und prototypisch imperialistisch. Der Punkt der größten Ausdehnung des Reiches war zugleich der Wendepunkt in Richtung seines Verfalls.
Die Europäer haben den Migranten gegenüber zwei Optionen: Entweder sie nehmen diese Menschen brüderlich auf, ganz im Sinn ihrer christlichen oder, nennen wir es für jetzt einmal so, humanistischen Programmatik - oder sie schotten sich, unter Verleugnung ihres ideologischen Programms, vor dem Zuzug ab. Versucht wird natürlich, einen Mittelweg zu gehen: den sogenannten kontrollierten Zuzug. Das kann aber einfach nicht funktionieren: Was ist genug, was ist zu viel? Ist Menschlichkeit nicht unteilbar? Und Brüderlichkeit erst gar? Man denke nur einmal an die regelmäßig vor unseren Küsten Ertrinkenden und den moralischen Aufschrei, der heuchlerisch darauf stets folgt. Was die humane Option angeht, würde freier Zuzug auf längere Sicht wohl den Kollaps der gewohnten Lebenswelt hierzulande bedeuten. Anders gesagt: Lassen die Europäer jedermann herein, bleiben sie ihren Grundsätzen und Vorstellungen von Menschenrecht und Menschlichkeit zwar treu, verlieren aber jedenfalls ihren bequemen materiellen Status. Sperren sie alle aus und erhalten damit diesen Status, zumindest für ein Weilchen noch, verlieren sie ihre ideologische Grundlage und also die Rechtfertigung ihres Lebens, ihrer Kultur. Wahrlich ein Dilemma, das dadurch noch vergrößert wird und sich vergrößert, als sowohl das christliche als auch das humanistische Programm, darin ähneln sie dem heidnisch-römischen, ihrem Charakter nach missionarisch und also imperialistisch sind. (Es gibt freilich Leute, die etwa so argumentieren, und das ist wahrlich deppensicher: Schaffen wir doch einfach unsere sozialen Einrichtungen ab. Wer wird dann noch nach Europa einwandern wollen?)
Zwar beansprucht Europa nicht (mehr), wie der Heilige Stuhl, ökumenische Kompetenz, da aber im Westen bloß der Atlantik zu missionieren wäre, richten die Europäer ihre Blicke nach Osten. Europa ist als Gebilde insofern einmalig, als es keine festgelegten Grenzen - das meint, keine endgültig definierte Außengrenze - kennt. Für die Nachbarn, eigentlich aber für alle, ist ein solcher Mitbewohner ungemütlich. Wer weiß, was dem noch alles einfällt? Die Europäer sind unermüdlich in Sachen Humanität unterwegs, daneben erledigen sie Geschäftliches. Das Ritual der Annäherung beginnt unverfänglich mit der Assoziierung, die später vielleicht in eine sogenannte Vollmitgliedschaft münden kann. Der Beitritt zum Euro steht als krönender Abschluss im Raum. Manchmal tut's aber auch eine simple Nato-Mitgliedschaft.
Fortwursteln
Die Haltung der Europäer zeigt sich etwa in Libyen, wo man um der guten Sache willen zwar Bomben en masse abwarf, um den Diktator zu stürzen. Er hatte sich's wahrlich verdient. Was dann weiter geschah und noch immer geschieht, nun, die Europäer sind einfach zu schwach, ihr Programm tatsächlich und real durchzuführen und durchzusetzen. Selbst die Bomben waren von den USA geliehen. Infolge der defätistischen Grundstimmung, nach zwei Großkriegen in einem Jahrhundert verständlich, und der Sparwut der Staaten, zum Zwang angefacht durch die wirtschaftlich kritischen Verhältnisse - wie mir ein Militär unlängst erklärte: In Europa weiß niemand so recht, wie Europa im Ernstfall dastünde.
Das lässt für den akuten Konfliktherd Ukraine wenig Gutes erhoffen, und das meint eine irgendwie substanzielle und stringente Politik. Das Sowohl-als-auch ist europäisches Programm. Man könnte das fast mit Weisheit verwechseln, wäre es nicht bloß auf Schwäche gegründet. (Die Ukrainer jedenfalls, so viel kann man jetzt schon sagen, werden zuletzt bankrott dastehen und, wie die Sache auch ausgehen mag, vollkommen in fremden Händen sein.)
Einschub aus österreichischer Sicht: Ein wenig erinnert die Lage an die Spätzeit der Monarchie, wo Fortwursteln die einzige Remedur war. Eine Zeit lang hat's ja geholfen, nicht wahr? Und wohin hat's dann geführt? Vorläufige Schlussfolgerung: Der eingeschlagene Mittelweg wird es für Europa nicht bringen. Und die sogenannten Leute, das Volk, spüren das ja auch. Sie marschieren in Demonstrationszügen gegeneinander auf. Die einen wollen ihre schöne oder schön geträumte Vergangenheit zurück, die anderen wünschen das Emanzipations- und Freiheitsprogramm womöglich auf alles und jedes auszudehnen. Die Politik, ja, die zeigt generell die staatsmännisch inszenierte Tendenz zum Abwiegeln, zum pragmatischen Weg der Vernunft etc. Das kostet wenig, man behält den Kopf oben und moderiert.
Ein Wort noch zur jeweiligen Konsequenz: Setzen die Abschotter sich durch, geht Europa wohl einer Neuen Ordnung (neu mit großem N) entgegen. Denken wir den ideologischen Zusammenbruch, den es in dem Fall jedenfalls zu kaschieren gilt, mit der gegebenen Wirtschaftsordnung zusammen, kann nur eine wie auch immer aufgestellte Diktatur oder eine Herrschaft der Wenigen, das Dilemma, nein, nicht lösen, seine Folgen aber hinausschieben. Setzt sich die humanistisch-christliche Fraktion durch, ich halte das für eher unwahrscheinlich, würde uns das zwingen, unser Leben insgesamt auf neue Grundlagen zu stellen. Der böse Witz dabei wäre, dass das Konzept Toleranz, auf das wir so stolz sind, dabei endgültig überdehnt und also obsolet würde. Zu Gott zurück führt kein Weg. Unsere Grundsätze bewahrend würden wir uns, so komisch es klingt und so schrecklich es wohl auch sein würde, gerade dadurch würden wir uns endgültig verlieren.
Was darf ich sagen?
Der Weg nach vorn allerdings, ins Ungewisse, Offene, er wäre frei. All das zusammengedacht, die Gefahren fein abgewogen: Erscheint da nicht der eingeschlagene Zickzackkurs, eine Politik, die Ankündigungen schon für Taten nimmt, Predigen für Handeln, das Verdrängen und, über das Verdrängen, möglichst das Vergessen von Konflikten, noch als die beste Lösung? Und außerdem: Glauben wir denn noch daran, woran wir glauben? Ich glaube nicht.
Aus aktuellem Anlass: Halte ich ein Schildchen hoch, auf dem steht: ICH BIN WEISS, provoziere ich bestimmt andere dazu, ein Schildchen hochzuheben, auf dem steht: ICH BIN SCHWARZ. Das Hochheben von Schildchen ist dem Lösen von Konflikten und schon gar einem friedlichen Miteinander nicht dienlich. (Hinter einer für die Demokratie unerlässlichen Meinungs- und Pressefreiheit steht die naturgemäß von der Straße nicht angesprochene Frage: Sind diese Freiheiten absolut zu setzen, oder sind sie vielmehr selbstredend begrenzt durch den Respekt vor dem anderen, jedenfalls vor dem, was diesem heilig ist? Ich darf alles sagen - aber ich tue es nicht, aus diesem und jenem Grund.)
Die Aufmärsche und Demonstrationen zeigen eines: Die institutionalisierte Politik findet und gibt keine Antworten auf bestimmte Fragen: So gelangen sie auf die Straße. Ist das gut so? Die Frage stellt sich nicht. Der Verdacht steht im Raum, dass die Politik die Straße bloß für sich instrumentalisiert, sie interpretiert, wie es ihr in den Kram passt. Gewisse Dinge allerdings passieren, weil der Grund dafür, so gut wie vergessen, vor langer Zeit gelegt wurde und das Gesetz sich entfaltet.
Europa als Friedensordnung? Nach innen vielleicht. Auch da bin ich mittlerweile skeptisch. (Griechenland!) Die nach außen zielenden Agenden europäischer Politik lassen sich eher schwer beschreiben: Da sind einmal nationale Kraftanfälle, meist sehr kurzatmig und stets auf ehemalige Kolonien gerichtet. Da ist das priesterlich-missionarische Auftreten der EU insgesamt, unter der Soutane schaut allerdings bald die Registrierkasse hervor. Dann ist da eine Haltung, etwa den Balkanländern gegenüber, als gäbe es nur ein einziges Heil - den Beitritt zur EU. Hier zeigt sich der Realitätsverlust ganz unverblümt.
Vergessen wir des weiteren nicht, dass die meisten EU-Länder zugleich Nato-Mitglieder sind. Als solche stehen sie den USA gegenüber in Bündnispflicht, und man weiß ja, was herauskommt, wenn ein Hase mit einem Löwen sich zusammentut. Wie soll man eine solche Lage auffassen und benennen? Als unübersichtlich jedenfalls, als widersprüchlich, ja, als seltsam und tatsächlich ein wenig grotesk: Schau in den Spiegel, Europa! Schau dich doch einmal an! (Peter Rosei, Album, DER STANDARD, 31.1./1.2.2015)