Wolfgang Blau, Digitalchef des britischen "Guardian".

Foto: Guardian

Wien – Für moderierte Foren und gegen Klarnamen spricht sich Wolfgang Blau, Digitalchef des "Guardian", aus. Für viele Verleger werde es in der digitalen Welt "nichts zu gewinnen" geben, prophezeit er. Im Rahmen von "20 Jahre derStandard.at" beantwortete Blau per Mail Fragen zur Zukunft des Journalismus und zu den Plänen, die er mit dem "Guardian" hat.

derStandard.at: Publizistisch ein Aushängeschild, wirtschaftlich ein Flop – so lautete der Tenor zu "Guardian News & Media". Warum hat der "Guardian" als einzige große Zeitung in Großbritannien noch keine Paywall eingeführt?

Blau: Der "Guardian" hat im letzten Geschäftsjahr digitale Erlöse in Höhe von 69 Millionen Pfund oder umgerechnet rund 90 Millionen Euro erwirtschaftet, ein Wachstum von 24 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dieser Trend hat sich im derzeit noch laufenden Geschäftsjahr fortgesetzt. Der Guardian-Gruppe ist es außerdem gelungen, eine Reserve von etwa einer Milliarde Euro zu erwirtschaften. Kennen Sie eine andere europäische Tageszeitung jenseits der Finanzpresse oder der Tabloid-Titel, die ähnlich erfolgreich gewirtschaftet hat?

derStandard.at: Und weshalb keine Paywall?

Blau: Sie können nicht weltweit Leserschaften aufbauen – bei uns inzwischen über 40 Millionen Leser pro Monat – und gleichzeitig das Bezahlgitter herunterlassen. Nach unseren Kalkulationen können wir ohne Paywall auch höhere Erlöse erwirtschaften als mit einer Paywall und dank der leichteren Interaktion mit unseren Leserinnen und Lesern auch einen moderneren Journalismus hervorbringen.

derStandard.at: Glauben Sie, dass sich Onlinejournalismus rein über die Schiene Werbung finanzieren lässt?

Blau: Vor allem die international aktiven Häuser mit ihren oft sehr großen Teams – die "New York Times" beschäftigt über 1.200 Journalisten, der "Guardian" knapp 700 – setzen auf einen Einnahmenmix aus Werbung, Nebengeschäften, Paid Content, Kooperationen mit Stiftungen und Membership-Modellen. Werbung wird auf lange Sicht den größten Anteil am Einnahmenmix haben, allein aber nicht ausreichen.

derStandard.at: Innovative Portale, die in den letzten Jahren entstanden sind, haben nicht zwingend einen verlegerischen Hintergrund. Crowdfunding-Portale wie "De Correspondent" und "Krautreporter" reüssieren. Verschlafen Medienhäuser die Entwicklung?

Blau: Für viele Verleger gibt es in der digitalen Welt einfach nichts zu gewinnen, und wir sollten ihnen nicht so rasch Verschlafenheit vorwerfen. Ihre Strategie, das alte Printgeschäft so lange zu beschützen wie möglich und ihre digitalen Aktivitäten nur als markenpflegende Begleitmusik für Print zu betreiben, ist plausibel und legitim. Verlage sind keine Stiftungen, und die meisten Tageszeitungen haben nun einmal keine plausible digitale Zukunft, sondern nur eine mittelfristige Zukunft als Printmedien, und danach ist es leider vorbei.

derStandard.at: Vor ein paar Jahren wurden Tablets im Allgemeinen und das iPad im Besonderen als Heilsbringer für den Journalismus gepriesen. Ist aus der damaligen Euphorie Ernüchterung geworden?

Blau: Die meisten App-Ausgaben großer Printtitel sind schöne Nebengeschäfte, verzeichnen aber nur geringes Wachstum und können die Abwanderung der Print-Leser nicht auffangen. Für Onlinemedien sind Tablet-Leser aber sehr attraktiv. Wer auf dem Tablet liest, verbringt dort oft sehr viel mehr Zeit mit einem Titel und betrachtet mehr Videos pro Session als auf der Desktop-Site desselben Titels. Die Zukunft der Online-Publisher entscheidet sich jedoch auf den immer größer werdenden Smartphones.

derStandard.at: Ein Dauerthema des Onlinejournalismus ist der Umgangston in Foren. Sind Sie für eine Klarnamenpflicht als Regulativ?

Blau: Klarnamen helfen wenig und sind vor allem für internationale Publikationen keine Option. Wir wollen beispielsweise unsere Leser in Russland nicht zu Klarnamen zwingen. Kommentarplattformen sind kostenintensiv. Einfach nur die technische Plattform anzubieten und sich dann über Vandalismus zu beklagen ist naiv. Sie würden auch nicht Ihr nationales Parlament über Nacht unbewacht offen stehen lassen, auf gepflegten Diskurs hoffen und dann am nächsten Morgen aufgrund des erwartbaren Vandalismus Rückschlüsse über die Demokratiefähigkeit der Bürger ziehen. Wer nicht in Moderation investieren will, soll keine Foren anbieten oder zumindest nicht über deren Qualität jammern.

derStandard.at: Was ist der effektivste Weg zu einer besseren Forenqualität?

Blau: Investieren Sie in Ihr Moderationsteam, schaffen Sie klare Regeln, beschützen Sie strikt deren Einhaltung und trainieren Sie Ihre Redakteure für die Teilnahme an Leserdebatten.

derStandard.at: Wege zu User-Generated Content und Leserbindung beschäftigen die Branche. Leseclubs werden etabliert, Veranstaltungen organisiert, Membership-Programme wie jenes des "Guardian" entstehen. Verlagert sich die Beziehung zu Lesern zunehmend von der virtuellen in die physische Sphäre?

Blau: Das Internet ist so wenig virtuell, wie es jemals ein rechtsfreier Raum war. Ich glaube aber in der Tat, dass Onlinemedien in noch stärkerem Maß als Printmedien physische Manifestationen für eine engere Beziehung zu ihren Lesern benötigen. Veranstaltungen, aber auch wöchentlich oder monatlich erscheinende Print-Titel spielen hier eine zentrale Rolle.

derStandard.at: In Deutschland duellieren sich Verleger mit Google um Abgeltung ihrer Inhalte. Ein Leistungsschutzrecht soll auch in Österreich kommen. Ist Google Freund oder Feind?

Blau: Google ist beides, vor allem aber ein geringeres Problem als Facebook. Was Österreich braucht, ist jedoch kein Leistungsschutzrecht, sondern ein wirklich harmonisierter europäischer digitaler Binnenmarkt, in den es digital expandieren kann. Europa braucht ein EU-weit standardisiertes Copyright, Verbraucherschutzrecht und Datenschutzrecht. Um Google, Facebook, Amazon, Apple und bald auch diversen chinesischen Onlineriesen die Stirn bieten zu können, brauchen wir nicht mehr Protektionismus, der nur den alten Branchenriesen nützt, sondern Marktbedingungen, die österreichischen Start-ups leichteren Zugang zu den 500 Millionen potenziellen Kunden in der EU verschaffen.

derStandard.at: Seit Jahren wird gepredigt, dass Onlinemedien auf Bewegtbildinhalte setzen sollen. Welche journalistischen Darstellungsformen, welches Storytelling würden Sie forcieren?

Blau: Ich würde weniger auf die reine Form als auf die verschiedenen redaktionellen und unternehmerischen Funktionen eines Onlinevideos achten. Wir gruppieren unsere Videos nach drei Aspekten: Hilft uns ein Video, das redaktionelle Profil des "Guardian" zu schärfen? Hilft uns ein Video, User zur regelmäßigen Wiederkehr zu animieren? Hilft uns ein Video, Geld zu verdienen? Es ist selten, dass ein Video mehr als zwei dieser Kriterien erfüllt. Diese Betrachtungsweise hat uns aber geholfen, Produktionen zu beenden, die genau zwischen diesen drei Stühlen sitzen. Wir beobachten außerdem, dass ein beträchtlicher Prozentsatz mobiler User unsere Videos ohne Ton anschaut.

derStandard.at: Portale wie "Buzzfeed", heftig.com und die "Huffington Post" sind auf Expansionskurs. Graben sie dem Journalismus das Wasser ab, weil sie einen Teil der Werbegelder lukrieren?

Blau: Ja, natürlich. Ich würde Ihnen aber nicht folgen wollen, wenn Sie "Huffington Post" und "Buzzfeed" als unjournalistisch bezeichnen würden.

derStandard.at: Die einen schwadronieren vom Untergang des Qualitätsjournalismus, andere sagen, dass es noch nie so gut um ihn bestellt war. Welche Position vertreten Sie?

Blau: Jeder Umbruch dieser Größenordnung bedeutet immer beides, den Verlust wertvoller Konventionen und Lebensweisen und den Gewinn neuer Einsichten. Wir erleben derzeit – ob vom Netz verursacht oder nur beschleunigt – eine weltweite Neuverteilung von Macht, in der der Medienwandel nur ein Nebenschauplatz ist.

derStandard.at: Welches Medium, abgesehen vom "Guardian", halten Sie für das derzeit interessanteste und warum?

Blau: Ich kann von buchstäblich jeder Publikation irgendetwas für das eigene Tagesgeschäft lernen, kenne aber kein Haus, das ich in allen Aspekten für nachahmenswert halte. Was mich besonders interessiert, ist hochwertiger Journalismus, der speziell auf Smartphones funktioniert, sowie alle Experimente, die den Artikel als die kleinste journalistische Einheit zu überwinden versuchen und dennoch unser menschliches Bedürfnis nach einem Narrativ, einer Story respektieren. (Oliver Mark, derStandard.at, 29.1.2015)