Leopold Rosenmayr in seiner Wohnung in Wien. Dort teilt er sich den Platz mit unzähligen Skulpturen und Masken, mitgebracht von seinen Forschungsreisen in Afrika und Asien.

Foto: Heribert CORN

STANDARD: Sie haben als Sozialforscher und Universitätsprofessor immer viel mit der Politik zusammengearbeitet und waren beratend tätig. Hat sich der Einfluss der Sozialwissenschaft auf die Politik verändert?

Rosenmayr: Ja, ganz entscheidend. Mir selbst war es immer wichtig, mit den Fachleuten in den Ministerien und Stadtverwaltungen gut zusammenzuarbeiten. Heute gibt es eine starke fachliche Ausprägung und Spezialisierung auf beiden Seiten, die zu einer Distanz zwischen sozialwissenschaftlicher und politischer Welt beigetragen hat. Ich habe den Eindruck, in den Ministerien begnügt man sich heute lieber damit, hin und wieder etwas von einer Meinungsforschungsfirma - wie im Supermarkt - einzukaufen. Aber es gibt kaum eine sichtbare, nachhaltige, wirkliche Zusammenarbeit zwischen Sozialforschung und Politik, soweit ich das beurteilen kann.

STANDARD: Sie haben früher auch sehr viel Vortragstätigkeit bei politischen Gruppen geleistet. Was können Sie darüber erzählen?

Rosenmayr: Als ich aus dem Krieg zurückkam, war ich zutiefst davon überzeugt, dass ich für unser Land etwas tun muss, und zwar in der Weise, dass sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse dazu beitragen können, die Situation der Menschen entscheidend zu verbessern. Und Politiker dachten auch so. Auf der Wiedner Hauptstraße im 4. Bezirk blieb einmal ein Auto neben mir stehen. Nach meinen Erfahrungen in der sowjetischen Besatzungszone nach 1945 hat mich das zunächst einmal sehr erschreckt. Da öffnete sich die Tür und Leopold Figl schaute heraus. Er sagte: "Wir brauchen Ihre Forschung, Herr Dr. Rosenmayr."

STANDARD: Leopold Figl hat Sie so mit einer Forschungsarbeit beauftragt?

Rosenmayr: Ja. Er war nach seiner Zeit als Bundeskanzler und Außenminister ab 1962 Landeshauptmann von Niederösterreich. Er wollte etwas gegen die schlechten Bedingungen für Arbeiter aus Niederösterreich tun, die unter der Woche in Wien arbeiteten. Sie mussten mitunter zu neunt in einem kleinen Kabinett übernachtet. Auch Hertha Firnberg darf man nicht vergessen, eine großartige Person, als Politikerin und als Mensch. Sie hat eine politiknahe Forschung nicht nur verlangt, sondern auch nachhaltig gefördert. Wenn ich mir bei einem ihrer Forschungswünsche nicht sicher war, sagte sie zu mir: "Besser, wir forschen einmal daneben, als das Rad steht still." In diesem Sinne hat sie mich zu sich gerufen, mir ein Stamperl eingeschenkt, und dann haben wir darüber geredet.

STANDARD: Warum ist diese Zusammenarbeit zwischen Forschung und Politik heute weniger geworden?

Rosenmayr: Weil die Forscher und Forscherinnen ihre Karrieren nur mehr in dem Kanal finden können, wo sich gerade etwas Populäres entwickelt. Und dort hängen sie sich hinein. In der Politik finden sie kaum mehr Möglichkeiten. Der zweite Grund liegt darin, dass die Politik offensichtlich nur mehr kurzlebige mediale Effekte erzielen will. Alles andere interessiert nicht wirklich.

STANDARD: Sie haben auch intensiv Generationenforschung betrieben. Einschneidende Veränderungen - ob am Arbeitsmarkt oder in puncto technologischer Neuerungen - passieren heute bereits innerhalb eines Jahrzehnts mehrfach. Das erschwert doch das Verhältnis zwischen den Generationen ungemein, oder?

Rosenmayr: Der Kontakt zwischen den Generationen ist wesentlich schwächer und problemreicher geworden. Das ist ein deutlicher Trend.

STANDARD: Sie haben auch immer wieder betont, ältere Menschen müssten viel mehr über sich erzählen und ihre Erfahrungen vermitteln. Aber was tun, wenn junge Menschen meinen, dass ihnen diese Erfahrungen nicht weiterhelfen, weil das Umfeld heute ein völlig anderes ist?

Rosenmayr: Meine Erfahrung und auch die Gleichaltriger ist, dass sich jüngere Leute auch in den eigenen Familien dafür nicht wirklich interessieren, weil sie "nichts davon haben". Die wichtigste Frage muss daher lauten: Was können die Älteren anbieten? Und sind die Jüngeren bereit, sich darauf einzulassen, auch wenn sich nicht sofort ein verwertbares Ergebnis einstellt?

STANDARD: Was genau sollten die Älteren denn anbieten?

Rosenmayr: Vor allem könnten sie anbieten, auf sich selbst zu schauen und sich selbst zu fördern. Ich würde das den Weg nach innen nennen. Ganz im Sinne von Augustinus: "Die Wahrheit liegt im Inneren des Menschen." Man muss sich im hohen Alter Zeit nehmen, sich neu zu finden, und muss danach suchen, was einem im Innersten wichtig ist. Sigmund Freud hat das "Ich-Umarbeitung" genannt, und auch schon Heraklit hat - 500 Jahre vor Christus - von dieser Selbstfindung gesprochen: Man müsse sich selbst prüfen. "Ich erforschte mich selbst", schreibt er. Dieses "erforsche dich selbst" wäre ein wichtiges Seniorenprogramm, denn ich halte diese Arbeit am eigenen Ich für zentral für ältere Menschen. Das Älterwerden erfordert Vorbereitung und Weiterbildung. Hier könnten die Generationen zusammenarbeiten.

STANDARD: Aber Menschen, die Zeit ihres Lebens körperliche Arbeit verrichtet und keine umfangreiche Schulbildung genossen haben, werden sich im Alter mit Büchern und Bildung schwerer tun.

Rosenmayr: Das ist richtig. Aber muss das auch so bleiben? Natürlich ist die innere Beschäftigung mit sich selbst dort, wo Bildungsgrundlagen vorhanden sind, wesentlich leichter. Aber es geht nicht allein um Bildung, sondern auch um persönliche Weisheit und Lebenseinstellung. Ich erinnere mich immer an meinen Urgroßvater, der mit 90 Jahren noch den Pflug selber geführt hat. Ich half ihm dabei in den Ferien, habe die Ochsen geführt oder den Pflug gewendet. Wir haben ihn verehrt. Deswegen hat er am Ende seines Lebens von uns Buben verlangt, uns niederzuknien, um mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn zu machen. Das war nicht kirchenbindend, sondern es ging ihm darum, meinen Bruder und mich anzuleiten, das zu leben, was ihm wichtig war. Es war eine geistige Übermittlung eines hochbetagten Mühlviertler Bauern. Ich lebe bis heute noch ganz bewusst mit dieser Geste und der geistigen Erbschaft meines Urgroßvaters, und ich bin glücklich damit. (Beate Hausbichler, DER STANDARD, 28.1.2015)