Paris/Moskau – Russische Staatsanleihen gelten zumindest laut der Ratingagentur S&P auf den internationalen Finanzmärkten nun als Ramschpapiere. Russland werde das aber nicht treffen, weil das Land nicht von Anleihen abhängig sei, sagt die Chefökonomin der russischen Alfa-Bank, Natalia Orlowa, im Gespräch mit dem STANDARD. Sie geht davon aus, dass die Inflation heuer noch auf bis zu 17 Prozent steigen, dann aber wieder sinken wird. Die Sanktionen hätten viele Unternehmen und Finanzinstitute in Russland verunsichert. Sie erwartet aber keinen Exodus ausländischer Banken.
STANDARD: Die Ratingagentur S&P bewertet russische Staatsanleihen nun als Ramsch. Was heißt das für Russland?
Orlowa: Einige Investoren, vor allem große Pensionsfonds, werden nicht mehr in Russland investieren können. Die wirkliche Frage ist, ob Russland von diesem Geld abhängig war. Der russische Bondmarkt ist sehr klein, der Staat ist kaum verschuldet. Vor allem der Exportsektor ist von Anleihen abhängig. Für den stellt sich jetzt die Frage, wie er seine Schulden refinanzieren wird können. Russland selbst wird das ökonomisch nicht treffen.
STANDARD: Könnten die russischen Staatsschulden durch die Probleme nicht schnell steigen?
Orlowa: Russland war nie glücklich über die sehr teuren Anleihen. Daher hat das Land immer versucht, kein Defizit zu machen. Das war immer Putins Priorität. Das bestätigt ihn jetzt nur. Er muss sich andere Einnahmequellen suchen.
STANDARD: Sie stehen in engem Kontakt mit der russischen Zentralbank. Der Rubel liegt zum Dollar jetzt bei 67, sind wird am Tiefpunkt angelangt?
Orlowa: Die Fundamentaldaten würden einen Wechselkurs von 50 bis 57 rechtfertigen. Die Unterbewertung liegt daran, dass die Märkte Kapitalkontrollen immer noch nicht ausschließen. Wie sich der Wechselkurs jetzt weiterentwickelt, liegt auch an der Regierung. Entschließt sie sich dazu, die Inflation kontrollieren zu wollen, bleiben die Zinsen hoch. Das würde den Rubel eher wieder teurer machen.
STANDARD: Bekommt die Zentralbank die Inflation heuer unter Kontrolle?
Orlowa: Die Inflation wird ihren Höchststand wohl im März oder April bei 16 bis 17 Prozent erreichen. Bis dahin werden die Zinsen sicher nicht sinken. Bis Jahresende wird die Inflation auf etwa zehn oder elf Prozent zurückgehen. Im Dezember sind viele Russen mit ihren Ersparnissen einkaufen gegangen. Das drückt die Inflation nach oben. Für heuer gehen wir davon aus, dass der Konsum um zehn Prozent einbricht, weil das schon ausgegebene Geld schlicht nicht mehr da ist. Das nimmt Druck von der Inflationsrate. Die Wirtschaft wird heuer um etwa fünf Prozent schrumpfen. Auch das sorgt für keinen Inflationsdruck.
STANDARD: Was kann Russland jetzt tun, außer darauf zu warten, dass der Ölpreis wieder steigt?
Orlowa: Das ist eine sehr gute Frage. Es liegen etwa 150 Milliarden Dollar in Staatsfonds. Damit kann man die Wirtschaft, bestimmte Industrien, stützen. Das ist viel Geld, aber deutlich weniger als 2008. Da waren noch 250 Milliarden Dollar drinnen. Ob das Geld reicht, um auch die Banken zu rekapitalisieren, kann man nicht sagen. Es gibt jedenfalls deutlich mehr faule Kredite in den Bilanzen der Institute.
STANDARD: Was kann man auf dem Bankensektor erwarten? Ausländischen Banken machen die Sanktionen Kopfschmerzen.
Orlowa: Die Sanktionen werden wohl noch für eine Weile dableiben. Internationale Banken haben viel Geld investiert, die werden nicht gleich wieder abziehen. Es wird aber sicher zu keiner großen Ausweitung der Geschäfte kommen. Das ist das positive Szenario. Werden die Sanktionen ausgeweitet oder kommt es zu stärken geopolitischen Problemen, könnte es auch dazu kommen, das ausländische Banken dem Land den Rücken zukehren. Dazu wird es aber nicht kommen, glaube ich.
STANDARD: Russland schlittert in eine tiefe Rezession. Wie viel davon ist auf die Sanktionen zurückzuführen?
Orlowa: Am meisten wirken die Sanktionen, indem sie Unternehmen und den Finanzsektor in Russland verunsichern. Es ist zu großen Kapitalabflüssen gekommen. Das tut Russland am meisten weh. Was den Zugang zu ausländischen Technologien betrifft, muss man abwarten. Bleiben die Sanktionen längerfristig, würde das auch schmerzen.
STANDARD: Was würde passieren, wenn man Russland vom internationalen Zahlungssystem Swift ausschließt?
Orlowa: Es wäre ein großes Desaster, nicht nur für Russland, sondern für alle Banken rund um die Welt. Russland ist heute ein sehr globalisiertes Land. Es wäre so etwas wie ein zweites Lehman Brothers. Das würde sehr teuer werden und Russland isolieren. Das hilft nicht dabei, den Dialog zu verbessern.
STANDARD: Der billige Rubel und die Sanktionen im Handel machen russische Produkte attraktiver. Gibt es positive Impulse für die russische Wirtschaft?
Orlowa: Das Problem ist, dass man nicht weiß, wie lange die Sanktionen da sein werden. Wüsste man es, könnte man planen und investieren. Wenn Sie heute investieren, und im Sommer sind die Sanktionen auf einmal weg, dann verlieren Sie Geld. Produzieren russische Unternehmen jetzt, was die Russen vorher im Ausland gekauft haben? Kaum.
STANDARD: Kann die Rezession Putin etwas anhaben? Noch scheint er ja sehr beliebt zu sein.
Orlowa: Für durchschnittliche Russen sind geopolitische Vorgänge und die Inflation zwei Paar Schuhe. Man muss auch bedenken: Im Westen sind 15 Prozent Inflation eine Krise. In Russland hat man noch Erinnerungen an die Hyperinflation Anfang der 1990er. Es war also schon einmal schlechter. Die Russen spüren also, ja, es geht uns etwas schlechter. Aber seit 2000 ist es uns beständig besser gegangen. Die Arbeitslosigkeit ist auf einem historischen Tiefstand. Wenn die Probleme länger dauern würden, dann vielleicht. (Andreas Sator, DER STANDARD, Langfassung, 27.1.2015)