Martha Gammer will mehr Erinnerung an den NS-Terror in ihrer Heimatgemeinde St. Georgen an der Gusen.

Foto: Werner Dedl

STANDARD: Die Suche nach möglicherweise unentdeckten NS-Stollen hat den kleinen Ort St. Georgen an der Gusen in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Martha Gammer: Durchaus positiv. Es ist die Aufhebung eines Tabus passiert. So offen wie jetzt ist noch nie über dieses durchaus heikle Thema gesprochen worden. Bitte, wir haben 1989 noch einen Gemeinderatsbeschluss durchsetzen müssen, damit die Zeit des Nationalsozialismus überhaupt in das damalige Geschichtebuch der Gemeinde St. Georgen kommen darf. Rudolf Haunschmied hat von da ab immer wieder Pionierarbeit zur Erforschung von Gusen und St. Georgen geleistet.

STANDARD: Aber wodurch hat sich die Situation konkret verändert?

Gammer: Es liegen jetzt, vor allem durch Arbeit des Linzer Filmemachers Andreas Sulzer, neue Indizien vor. Die erst 2003 freigegebenen britischen Luftaufnahmen - vor allem deren exakte Auswertung - und andere Dokumente zeigen deutlich wie nie zuvor, dass rund um das ehemalige KZ Gusen vieles noch im Dunklen liegen muss. Auch Dokumente in unseren eigenen Archiven muss man jetzt neu sehen und zu verstehen versuchen.

STANDARD: Sie glauben also, dass es im Untergrund von St. Georgen noch Unbekanntes gibt?

Gammer: Unbestritten ist, dass die heute bekannte unterirdische Rüstungsanlage "Bergkristall" deutlich größer war oder es weitere Anlagen gab. Dafür gibt es etliche Zeitzeugenberichte. Die Leute haben ja nach dem Krieg - im Zug des Sandabbaus dort - gesehen, dass drei Etagen übereinander lagen, die mittlere und die obere sind Bergkristall zuzuordnen. Jetzt gibt es aber erstmals Belege, dass die Anlage deutlich größer war, vor allem in Richtung Westen der Gemeinde, gegen Luftenberg. Dort gab es auch immer wieder gut dokumentierte Einbrüche im Boden. Aber auch in anderen Bereichen des Gemeindegebietes kommen rätselhafte Hinweise auf, wenn man die viel genaueren britischen Luftaufnahmen genau betrachtet. Die neuen Dokumente machen daher eine historische Neubewertung notwendig, und endlich auch ein Umdenken der Republik.

STANDARD: Inwiefern?

Gammer: Das offizielle Österreich hat das Gedenken nach Mauthausen verlegt. Was zur Folge hat, dass Gusen trotz seiner 44.000 Toten kaum in der gesellschaftlichen Wahrnehmung präsent ist, denn in diesem KZ waren ab 1942 mehr Menschen interniert als im Hauptlager Mauthausen. Gusen I war unter Häftlingen die "Hölle", Gusen II die "Hölle der Höllen". Was heute unter dem "KZ Mauthausen" bekannt ist, war in Wirklichkeit ein ganzes Netzwerk von Lagern. Von den mehr als 84.000 Häftlingen, die im März 1945 angetroffen wurden, befanden sich etwa 45.000 in den Lagern von Gusen, die meisten anderen Nebenlager waren schon vor der Befreiung geräumt worden. Diese Fakten wurden im Nachkriegsösterreich konsequent negiert.

STANDARD: Aber ist nicht gerade mit dem neuen Gedenkkonzept in Mauthausen auch eine bessere "Einbindung" des ehemaligen KZs Gusen passiert?

Gammer: Es ist schon etwas getan worden vonseiten der Historiker und öffentlichen Stellen seit dem Jahr 2000, vor allem aber von den Opferländern. Die Gedenkstätte in Gusen wurde von Überlebenden der Gusener Lager selbst errichtet. In der neuen Ausstellung in Mauthausen ist hingegen kaum etwas zur Errichtung der Stollenanlage Bergkristall und der Fertigung der Me-262-Flugzeuge zu finden, immerhin die Todesursache von etwa 11.000 Menschen oder mehr.

STANDARD: Die jüngsten Spekulationen werden durchaus kritisch gesehen. Führende Historiker orten eher ein gut durchdachtes PR-Konzept für einen geplanten Film als eine wissenschaftliche Sensation.

Gammer: Diese von vornherein ablehnende Haltung der Fakten von Gusen erlebe ich doch schon seit Jahrzehnten. Aktuell ist es wahrscheinlich die Angst, dass man 70 Jahre nach Kriegsende plötzlich auf Dinge stößt, die überkommene Meinungen infrage stellen. Und sicher will man einer gewissen Tradition in diesem Land nicht entgegentreten. Wie bereits erwähnt: Österreich gedenkt in Mauthausen. Es gibt eine historische Scheu vor Gusen. Es ist offiziell nie gefragt worden, ob es mehr als die bekannten "Bergkristall"-Stollen gibt.

STANDARD: Doch auch in der Bevölkerung ist man geteilter Meinung. Viele St. Georgener wollen nicht mehr, dass alte "Wunden" ihrer Heimat wieder aufgerissen werden, oder?

Gammer: Ja, diese Haltung gibt es. Aber diese Generation wird weniger. Viele jüngere Leute in unserer Gegend wollen sich aktiv mit der Vergangenheit beschäftigen. (Markus Rohrhofer, DER STANDARD, 25.1.2015)