Žižek: "Wer nicht kritisch über die liberale Demokratie reden will, der sollte über den religiösen Fundamentalismus schweigen."

Foto: Tomaz Gregoric

STANDARD: In Ihrem Beitrag für den "New Statesman" haben Sie Ihre Solidarität mit "Charlie Hebdo" ausgedrückt. Waren die weltweiten Reaktionen auf die Ereignisse adäquat?

Slavoj Žižek: Vergegenwärtigen Sie sich das Pathos der universellen Solidarität, das in den Tagen nach den Morden in Paris ausgebrochen ist und seinen Höhepunkt in dem Schauspiel gefunden hat, bei dem die großen Namen der Politik aus der ganzen Welt händehaltend dagestanden sind - wenn es jemals ein Bild heuchlerischer Verlogenheit gegeben hat, dann war es dieses. Die wahre Antwort von "Charlie Hebdo" wäre eine große Karikatur auf der Titelseite gewesen, die brutal und geschmacklos dieses Ereignis verhöhnt und gezeigt hätte, wie Netanjahu und Abbas, Lawrow und Cameron und andere Pärchen sich umarmen, während sie hinter ihren Rücken die Messer schleifen.

STANDARD: Sie haben gesagt, dass die muslimischen Terroristen auf eine seltsame Art fundamentalistisch sind, weil sie sich ständig im sozialen Spiegel des Westens sehen müssen. Fundamentalisten wie die Amischen würden die westlichen Hedonisten und ihre Karikaturen ignorieren. Wenn also nicht derFundamentalismus, was steckt dann hinter den Terroristen? Etwa ein verzweifeltes Verlangen nach einer transzendentalen Causa, die in dieser postideologischen Welt so sehr fehlt?

Žižek: Die Dinge sind mehrdeutiger. Wenn man einen russischen Antikommunisten fragt, welche Tradition an den Schrecken des Stalinismus schuld sei, bekommt man zwei entgegengesetzte Antworten. Einige sehen im Stalinismus ein Kapitel in der langen Geschichte der Verwestlichung Russlands, eine Tradition, die mit Peter dem Großen begann (wenn nicht gar mit Iwan dem Schrecklichen); andere beschuldigen die lange Tradition des orientalischen Despotismus, die dort vorgeherrscht hat. Während also für die einen die westlichen Modernisierer brutal das organische Leben des traditionellen Russland zerstört haben, ist für die anderen die Tragödie des Landes, dass die sozialistische Revolution zur falschen Zeit am falschen Ort stattgefunden hat, in einem zurückgebliebenen Land ohne demokratische Tradition. Ist es mit dem Fundamentalismus, der seinen (bisher) radikalsten Ausdruck in der IS gefunden hat, nicht so ähnlich?

STANDARD: Was ist das eigentlich für ein Phänomen? Es scheint die westlichen Mächte überrascht zu haben.

Žižek: Es ist zum Gemeinplatz geworden festzustellen, dass der Aufstieg der IS das letzte Kapitel in der langen Geschichte des antikolonialen Erwachens sei und dass es gleichzeitig ein Kapitel im Kampf gegen die Art und Weise sei, in der das Kapital die Macht von Nationalstaaten untergräbt. Doch der Grund für so viel Furcht und Fassungslosigkeit liegt in einer anderen Eigenschaft des IS-Regimes: Seine offiziellen Verlautbarungen machen klar, dass die Hauptaufgabe einer Staatsmacht nicht das Wohl seiner Bevölkerung ist. Was wirklich zählt, ist vielmehr das religiöse Leben, die Sorge dafür, dass das ganze öffentliche Leben sich religiösen Gesetzen unterwirft. Deswegen sind der IS die humanitären Katastrophen innerhalb ihres Bereichs mehr oder weniger egal - ihr Motto: "Kümmere dich um Religion, und das Wohl der Leute wird sich von selbst ergeben." Da liegt die Kluft, die den von der IS praktizierten Begriff der Macht vom westlichen Begriff der sogenannten Biomacht trennt, die das Leben regelt: Das IS-Kalifat lehnt den Begriff der Biomacht völlig ab.

STANDARD: Macht das die IS zu einer vormodernen Macht, die verzweifelt versucht, die Uhr des geschichtlichen Fortschritts zurückzudrehen?

Žižek: Der Widerstand gegen den globalen Kapitalismus sollte sich nicht auf vormoderne Traditionen verlassen, auf ihre besonderen Lebensformen - aus dem einfachen Grund, dass so eine Rückkehr unmöglich ist, weil die Globalisierung bereits den Widerstand gegen sich beeinflusst: Die der Globalisierung im Namen von bedrohten Traditionen Widerstand leisten, sprechen bereits die Sprache der Modernität. Ihr Inhalt mag altertümlich sein, aber ihre Form ist ultramodern. Statt die IS als eine Form extremen Widerstands gegen Modernisierung zu sehen, sollte man sie sich eher als einen Fall pervertierter Modernisierung vorstellen, in einem Umfeld ähnlicher konservativer Modernisierungen, die mit der Meiji-Restauration in Japan begann. Das bekannte Foto von al-Baghdadi, dem IS-Führer, mit einer teuren Schweizer Uhr an seinem Arm ist emblematisch: Die IS ist in den Bereichen Web-Propaganda, Finanzgebarung etc. gut organisiert. Zugleich nutzt sie diese ultramodernen Praktiken, um eine ideologisch-politische Vision zu verbreiten und zu erzwingen, die nicht so sehr konservativ ist als vielmehr ein verzweifelter Schritt in Richtung klarer hierarchischer Abgrenzungen, vor allem unter jenen, die Religion, Erziehung und Sexualität regeln.

STANDARD: Wenn das Fehlen einer säkularen Linken den Aufstieg des muslimischen Radikalismus erklärt, was sollte dann der Westen tun, um das Problem des globalen Terrorismus zu lösen?

Žižek: Das ist mein Punkt - wir können es nicht lösen, solange wir im Bezugsrahmen der liberalen Demokratie bleiben. Nur eine neue radikale Linke kann es lösen. Erinnern wir uns an Walter Benjamins alte Einsicht: "Jeder Aufstieg des Faschismus zeugt von einer gescheiterten Revolution." Der Aufstieg des Faschismus ist das Versagen der Linken, doch zugleich ein Beweis, dass es ein revolutionäres Potenzial gegeben hat, eine Unzufriedenheit, die die Linke nicht imstande war zu mobilisieren. Und gilt das Gleiche nicht für den heutigen sogenannten "Islamo-Faschismus"? Korreliert der Aufstieg des radikalen Islamismus nicht exakt mit dem Verschwinden der säkularen Linken in muslimischen Ländern? Als im Frühjahr 2009 die Taliban das Swat-Tal in Pakistan besetzt hatten, berichtete die "New York Times", dass sie "eine Klassen-Revolte in die Wege leiteten, indem sie die tiefe Kluft zwischen einer kleinen Gruppe reicher Großgrundbesitzer und ihren landlosen Pächtern ausnutzten". Wenn die Taliban aber, indem sie das Leiden der Bauern "ausnutzten", "Alarm betreffend die Risiken für ein überwiegend feudales Pakistan" auslösten, was hindert die liberalen Demokraten in Pakistan oder den USA daran, auf ähnliche Weise das Leid "auszunutzen" und den landlosen Bauern zu helfen? Die traurige Einsicht jedoch ist, dass die feudalen Kräfte die "natürlichen Verbündeten" der liberalen Demokratien sind ...

STANDARD: Was gibt es also über die Grundwerte des Liberalismus zu sagen: Freiheit, Gleichheit usw.?

Žižek: Das Paradoxe ist, dass der Liberalismus nicht stark genug ist, sie vor dem fundamentalistischen Ansturm zu retten. Fundamentalismus ist eine Reaktion - eine falsche, mystifizierende Reaktion natürlich - auf eine wirkliche Schwäche des Liberalismus. Deswegen wird sie vom Liberalismus immer wieder neu geschaffen. Sich selbst überlassen, wird sich der Liberalismus langsam unterminieren. Das Einzige, was seine Grundwerte retten kann, ist eine erneuerte Linke. Damit sein Vermächtnis überleben kann, braucht der Liberalismus die brüderliche Hilfe der radikalen Linken. Das ist der einzige Weg, denFundamentalismus zu besiegen, ihm den Boden zu entziehen. Über eine Antwort auf die Pariser Morde nachzudenken bedeutet, die Selbstgefälligkeit eines permissiven Liberalen aufzugeben und zu akzeptieren, dass der Konflikt zwischen liberaler Toleranz und Fundamentalismus letztlich ein falscher Konflikt ist - ein Teufelskreis zwischen zwei Polen, die sich gegenseitig schaffen und bedingen. Was Max Horkheimer schon in den 1930er-Jahren über Faschismus und Kapitalismus gesagt hat - dass die, die nicht kritisch über den Kapitalismus sprechen wollen, über den Faschismus schweigen sollen -, das sollte auch auf den heutigen Fundamentalismus angewendet werden: Wer nicht kritisch über die liberale Demokratie reden will, der sollte über den religiösen Fundamentalismus schweigen.

STANDARD: Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen Ihnen und Michel Houellebecq in seiner Kritik an den westlichen liberalen Gesellschaften?

Žižek: Ja, bestimmt. So verrückt es klingt, ich habe großen Respekt vor ehrlichen liberalen Konservativen wie Houellebecq, Finkielkraut oder Sloterdijk in Deutschland. Man kann von ihnen mehr lernen als von fortschrittlichen Liberalen wie Habermas: Ehrliche Konservative scheuen sich nicht davor, die Blockade einzugestehen, in der wir uns befinden. Houellebecqs "Elementarteilchen" ist für mich das verheerendste Porträt der sexuellen Revolution der Sechzigerjahre. Er beschreibt, wie der permissive Hedonismus in ein obszönes Über-Ich-Universum umschlägt, in dem Lust zur Pflicht wird. Sogar sein Antiislamismus ist verfeinerter, als es erscheinen mag: Es ist ihm klar, dass das wahre Problem nicht die muslimische Bedrohung von außen ist, sondern unsere eigene Dekadenz. Vor langer Zeit hat Nietzsche erkannt, dass die westliche Kultur sich auf den "letzten Menschen" zubewegt, eine apathische Kreatur ohne große Leidenschaft oder Verantwortung. Unfähig zu träumen, des Lebens müde, geht er kein Risiko ein, sucht nur Bequemlichkeit und Sicherheit, einen Ausdruck von gegenseitiger Toleranz: "Ein wenig Gift ab und zu: Das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: Aber man ehrt die Gesundheit. ,Wir haben das Glück erfunden', sagen die letzten Menschen und blinzeln."(DER STANDARD, 24.1.2015)