Wie viele Strukturen unserer "zivilisierten Gesellschaft" müssen bis zu diesem fatalen letzten Schritt versagt haben, wenn Kinder und Jugendliche dem "Call of Duty" hasserfüllter Extremisten folgen? Darüber gilt es nachzudenken.

Vor 20 Jahren schon oder mehr, sorgten Schlagzeilen für Aufsehen, wonach so genannte "Killerspiele" schuld an jugendlichen Verbrechen, realen Morden und Amokläufen seien. 20 Jahre und unzählige "Sun"- und "Bild"-Kampagnen später haben Games vergangene Woche einen neuen Sündenbockstatus erreicht, als ein "FAZ"-Autor die "Religion der Egoshooter" verantwortlich für die steigende Zahl jugendlicher Terroristen machte. Zuerst zu Mördern und nun zu Terroristen. Videospiele müssen der Teufel sein. Und ihr Verbot die Lösung aller Probleme. In welch unkomplizierter Welt wir doch leben.

Ablenkjagd

Dramatisch an diesen Vorwürfen ist, dass sie monokausale Erklärungsansätze für Phänomene liefern, die sich nicht an einzelnen Ursachen festmachen lassen. Es wird ein schwarzer Peter an die Wand gemalt, ein Sündenbock ausfindig gemacht, der, wenn überhaupt, allein gar nicht verantwortlich für so eine Gräueltat sein kann. Ganz abgesehen davon, dass Wissenschaftler nach jüngsten Erkenntnissen tatsächlich einen Zusammenhang zwischen realer Gewalt und Videospielgewalt ausschließen.

Das Schlimme aber an dieser wenig fundierten Jagd auf den vermeintlichen Spieleteufel ist, dass sie von weit naheliegenderen Ursachen für Gewaltakte, Extremismus und Terrorismus ablenken.

Wo sind die Schlagzeilen, die Armut, mangelnde Bildung, fehlende Chancengleichheit, fehlende Gleichberechtigung, soziale Verwahrlosung, Hetze, Ausbeutung, Intoleranz und Ausgrenzung als Ursachen für terroristische Anschläge und Gewaltakte von jugendlichen machen? Wo ist der laute Schrei nach einer faireren Vermögensverteilung, nach zusätzlichen Investitionen in ein allgemein zugängliches Bildungs- und Sozialsystem, nach besserer Integration und inklusiveren Gesellschaftssystemen wenn der Terror die immer spitzer wachsende Kapitalismuspyramide auf den Boden der Tatsachen zurückholt? Es gibt sie. Und auch nicht wenige. Gut versteckt unter den fetten Lettern gut verkäuflicher Polemik.

Gesellschaftliches Versagen

Damit hier zu keinem Missverständnis kommt: Ich erachte es als völlig legitim und sogar wichtig, Medieninhalte zu hinterfragen und diese gegebenenfalls zu kritisieren. Soziokulturelle Kritik fördert die Medienentwicklung, genauso wie Medienschaffende unsere Gesellschaft bereichern.

Doch es hat nichts mit konstruktiver Kritik zu tun, Videospiele anzuprangern und damit all jene Menschen zu übertönen, die unter Hochdruck ernsthafte Ursachenforschung betreiben. Ja, es stimmt: Terrororganisationen werben mit Egoshooter-Logik, Hollywood-Ästhetik und Gangsterrap um Jugendliche. Doch nur mit der Hoffnung auf ein besseres Leben (danach) gewinnen sie diese Seelen für sich. Wie viele Strukturen unserer "zivilisierten Gesellschaft" müssen bis zu diesem fatalen letzten Schritt versagt haben, wenn Kinder und Jugendliche dem "Call of Duty" hasserfüllter Extremisten folgen? Darüber gilt es nachzudenken. (Zsolt Wilhelm, derStandard.at, 24.1.2014)