Mit Deutschland und der Eurozone verhält es sich ein bisschen so wie mit einem Musterschüler in der Durchschnittsklasse. Der Lehrer geht das letzte Kapitel im Mathematikbuch noch einmal durch, um es auch den langsameren Schülern zu erklären. Der deutsche Streber versteht nicht, wozu das gut sein soll.
Die Rolle des Lehrers nimmt derzeit der Italiener Mario Draghi ein. Der EZB-Präsident will mit einer lockereren Geldpolitik das Ruder in der Eurozone herumreißen und die Preise wieder steigen lassen. Dafür wird er wohl in großem Volumen Schuldpapiere der einzelnen Euroländer aufkaufen.
Scharfe Kritik
Für viele Ökonomen ist das der logische nächste Schritt. In den USA, England und Japan machen das die Notenbanken schon lange. In Deutschland wird Draghi dafür heftig kritisiert. Der CDU-Politiker Norbert Barthle sieht die EZB auf einen Teufelskreis zusteuern, CSU-Politiker Hans Mistelbach nannte Draghi sogar eine Fehlbesetzung. Eine Ebene höher drückt man sich etwas diplomatischer aus. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble warnen die EZB davor, den Südländern den Reformdruck zu nehmen. Kauft die EZB etwa spanische Anleihen, senkt das die Refinanzierungskosten des spanischen Staates.
Für einen anderen Deutschen verläuft dieses Argument im Sand. Es sei auf gar keinen Fall die Aufgabe der Notenbank, auf Reformdruck in den Krisenländern zu achten, sagt Christian Odendahl. Der Chefökonom des Centre for European Reform erklärt sich die deutsche Skepsis so: "Der Öffentlichkeit wurde nie erklärt, was es heißt, in einer Krise Teil einer Währungsunion zu sein", sagt der in London lebende Ökonom.
Minizinsen versus Inflation
Während die Medien in Südländern die EZB dazu aufrufen, endlich ihr Inflationsziel von zwei Prozent ernst zu nehmen, werfen deutsche Zeitungen der Notenbank eher die Minizinsen vor, die den deutschen Sparern Kopfschmerzen bereiten. Aber nicht nur Bevölkerung, Politik und Medien sind skeptisch. Auch deutsche Ökonomen scheinen anders zu ticken als viele ihrer angelsächsisch geprägten Kollegen.
Das zeigte sich auch schon in den vergangenen Jahren, als etwa Jürgen Stark als Chefökonom der EZB abdankte. Er wollte die Rettungspolitik nicht mehr mittragen. Sabine Lautenschläger, Mitglied des EZB-Direktoriums, hält die Risiken eines Aufkaufprogramms derzeit für größer als den Nutzen. Zu den Nebeneffekten gehören etwa Anleger, die auf der Suche nach Rendite immer riskantere Deals eingehen. Der Chef der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, sieht schon den bisherigen Aufkauf von Kreditpapieren durch die EZB kritisch und ist auch gegen den Ankauf von Staatsanleihen.
Charmeoffensive
Manfred Neumann, der mittlerweile emeritierte Doktorvater von Weidmann, sieht deutsche Ökonomen in einer anderen Denktradition. "Bei uns in Deutschland war die Skepsis immer größer, dass die Geldpolitik die Wirtschaft groß anregen kann", sagt Neumann zum STANDARD. Auch die Erfahrungen der Hyperinflation in den 1920ern haben das Land und seine Ökonomen geprägt.
Das hat sich mittlerweile auch bis zur PR-Abteilung der EZB durchgesprochen. Zuletzt gab Mario Draghi gleich zwei seiner seltenen Interviews. Beide führten deutsche Zeitungen. Mit der Wochenzeitung Die Zeit sprach er etwa über schlechten Erfahrungen mit der hohen Inflation in Italien. (Andreas Sator, DER STANDARD, 22.1.2015)