Bei der Trauerfeier für die Opfer des Terrorismus im koscheren Supermarkt in Paris wurde der französische Ministerpräsident Manuel Valls gefragt, ob man als Jude nicht besser auswandern soll. Daraufhin rief er: "Wir brauchen die Juden! Ohne Judaismus ist die französische Republik nicht vorstellbar!"

Auch Österreich wäre ohne die Juden nicht vorstellbar - in dem Sinn, dass ein ganz entscheidender Teil unserer Gesellschaft ohne den jüdischen Beitrag zum Geistesleben, zur Wissenschaft, zur Wirtschaftsdynamik sehr viel ärmer wäre - historisch und aktuell. Das gilt für ganz Europa. Es ist ja eine bittere Ironie, wenn sich die Islamfeinde von heute auf das "judäo-christliche Erbe" berufen. Leute zum Teil gleicher Geisteshaltung haben sich 60, 70 Jahre intensiv bemüht, den jüdischen Teil des Erbes zu vertreiben und physisch auszulöschen.

Aber es ist nicht zu leugnen, dass die Hauptgefahr für die Juden im heutigen Europa von islamistischen Terroristen ausgeht. In Frankreich lebt die größte jüdische Gemeinde Europas (500.000 Mitglieder), aber auch die meisten Muslime (zwischen vier und sechs Millionen). Auf jugendliche Verlierertypen aus den Banlieues gehen die allermeisten der mörderischen Angriffe auf Juden zurück. Dazu kommen unzählige "harmlosere" Angriffe. 7000 Juden sind deswegen ausgewandert, Tausende mehr fühlen sich nicht sicher und überlegen den Weggang. Der um sein politisches Überleben kämpfende israelische Premier Benjamin Netanjahu hat, nachdem er sich in die Reihe der Staats-und Regierungschefs in Paris gedrängt hatte, die französischen Juden zur kollektiven Übersiedlung nach Israel aufgefordert.

Die Bedrohung der europäischen Juden durch den Vorstadt-Jihadismus in Europa ist real. Wir Europäer dürfen deshalb nicht - noch einmal - zusehen, wenn es gegen die Juden in unserer Mitte geht. Ganz besonders nicht in Österreich, wo es etwa 10.000, und in Deutschland, wo es etwa 100.000 Juden gibt.

Polizeiliche Maßnahmen sind das eine, das Selbstverständliche. Das andere sind Zeichen aus der Zivilgesellschaft, dass man nicht zulassen wird, wenn die Juden erneut als Feindbild aufgebaut werden. Und Wachsamkeit, wo das bereits geschieht.

Das heißt nicht, blind die selbstbeschädigende Siedlungs-und Besatzungspolitik der Regierung Netanjahu zu unterstützen oder auf Kritik daran zu verzichten. Die kommenden Wahlen in Israel sind nach Meinung auch vieler liberaler Juden inner- und außerhalb Israels eine Grundsatzentscheidung zwischen nationalistischem Messianismus und einer rationalen Politik. Aber deswegen sind die antiisraelischen Demonstrationen, die etwa türkische Erdogan-Anhänger bei uns veranstaltet haben, nicht weniger fragwürdig.

Der neue Antisemitismus in Europa ist ganz überwiegend islamistisch. Daran gibt es nichts zu deuteln, und das ist der Punkt, wo sich alle entscheiden müssen, ob sie das dulden wollen: nicht zuletzt die gemäßigten Muslime selbst. Der Judaismus gehört zu Europa, seit 2000 Jahren schon. Er ist Teil der europäischen Identität. (Hans Rauscher, DER STANDARD, 21.1.2015)