Kaum war der große alte Mann gestorben, kam das Land zum Stillstand. Wenige Wochen zuvor noch hatte die Insel einen politischen Neuanfang inszeniert und damit dem neuen Lebensgefühl der 1960er-Jahre mit Pille, Beatles und Brutal-Beton Ausdruck verliehen: In der Downing Street residierte nun Harold Wilson, der erste Labour-Premier nach 13-jähriger Tory-Herrschaft.

Im kalten Jänner 1965 aber blickten die Briten zurück auf eine epochale Figur, auf 90 Jahre eines Renaissancemenschen. Bis zur Zeitenwende im 16. Jahrhundert hatte das Leben von Winston Spencer Churchill (1874- 1965) zwar nicht zurückgereicht - zu Grabe getragen wurde aber einer, dessen Kindheit und Jugend unter Königin Victoria (1837-1901) den Zeitgenossen schon unvorstellbar weit weg scheinen mussten.

Der Abkömmling des berühmten Feldherrn John Churchill, des ersten Herzogs von Marlborough, war 1898 Teilnehmer an der letzten Kavallerie-Attacke der britischen Armee, befreite sich 1899 aus der Gefangenschaft der Buren in Südafrika, gewann schon 1900 erstmals eine Wahl zum Unterhaus, dem er dann, mit winzigen Unterbrechungen, bis kurz vor seinem 90. Geburtstag angehörte. Churchill stellte eine Brücke dar zum längst versunkenen Zeitalter, als ein Viertel der Erdoberfläche zum britischen Empire gehörte.

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Winston Churchill, der US-Präsident Harry Truman und Josef Stalin bei der Konferenz von Potsdam am 17. Juli 1945.
Foto: EPA/STR

An entscheidender Stelle hatte er den Ersten Weltkrieg miterlebt - und an alles entscheidender Stelle dann den Zweiten Weltkrieg. Ohne den halbgebildeten Aristokraten und barocken Schriftsteller mit einer ausgeprägten Neigung zu allem Kriegerischen hätte das geschrumpfte Weltreich 1940 die Waffen gestreckt vor dem allmächtig scheinenden deutschen Diktator. Stattdessen blieb Großbritannien stehen: allein. Nur Churchills mächtige Worte ("Ich habe nichts anzubieten außer Blut, Mühen, Tränen und Schweiß"), ein paar Hundert Flugzeuge und ihre blutjungen Piloten, darunter viele Tschechen und Polen, standen zwischen Hitlers Kriegsmaschine und der Insel.

Von einem "späten Helden" spricht Thomas Kielinger im Untertitel seiner Churchill-Biografie: Der Mann wurde Premierminister mit 65 Jahren, "wenn die meisten Leute in Pension gehen". Was er im höchsten Amt des Landes leistete, darüber gibt es Einigkeit. Prägnant wie immer fasste der berühmte, 1990 verstorbene Historiker Alan J. P. Taylor die Leistung des Kriegspremiers in einer knappen Fußnote zusammen: "Der Retter seines Landes." Und Labour-Minister Roy Jenkins beschrieb Churchill als den "größten Bewohner der Downing Street aller Zeiten".

Merkwürdig verhalten ruft sich hingegen Großbritannien dieser Tage den am 24. Jänner Verstorbenen in Erinnerung. In seinem Kriegsquartier, den "Churchill War Rooms", treffen einander die Historiker zu einem Symposium; im Parlament soll es eine Kranzniederlegung geben bei der Statue, deren Füße abergläubische Abgeordnete auch heute noch streicheln, als könnte ihnen der Geist des Toten rhetorische Brillanz und scharfen Witz einhauchen.

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Der Eingang der Brompton Road Tube Station in London, wo Winston Churchill während des Krieges sein Hauptquartier aufgebaut hatte.
Foto: EPA/LONDON TRANSPORT MUSEUM / HANDOUT

Fürs Fernsehen wird die Tower Bridge feierlich geöffnet: eine Geste der Trauer wie im Jänner 1965, als die Barkasse mit dem Leichnam vorüberglitt. Und wie damals wird auch heuer dem Toten eine Gedenkmünze gewidmet.

Die Leitartikler werden kopfschüttelnd konstatieren, dass unsere Politiker heutzutage natürlich nicht mehr aus diesem Holz geschnitzt seien. Dem Vergleich entkommt kein nachgeborener Premier - nicht einmal Maggie Thatcher (1979-1990) hält ihm stand. Ganz gewiss gilt dies für Boris Johnson, den Londoner Bürgermeister und Möchtegernpremier, dessen Buch The Churchill Factor allzu offensichtlich einen Vergleich zwischen Autor und Beschriebenem herausfordert. Der Historiker Richard Evans zählte im New Statesman zahlreiche sachliche Fehler auf und kam zum Schluss: Es handle sich um das Werk "über einen, der Geschichte schrieb; geschrieben von einem, der Geschichte offenbar erfindet".

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Der Londoner Bürgermeister Boris Johnson und sein Buch "The Churchill Factor".
Foto: APA/EPA/Olivier

Sosehr Johnson die brutale Kritik für sein Buch verdient: Heutige Politiker nur an Churchills Durchhaltewillen, eiserner Konstitution und rhetorischer Brillanz zu messen wird niemandem gerecht. Zum Glück muss sich nicht jede Generation einer Ausnahmefigur wie Hitler stellen, dessen "patriotische Leistung" Churchill übrigens noch 1937 bewunderte. In dieser Zeit schrieb der Sohn einer Amerikanerin fürstlich bezahlte Artikel, hielt in den USA wohldotierte Vorträge und schrieb eine Biografie über seinen großen Vorfahren John Churchill.

Falsch verstandene Loyalität

Seine politische Karriere hingegen schien damals schon beendet, worauf Kielinger hinweist: Die Abdankungskrise von 1936, in der Churchill aus falsch verstandener Loyalität viel zu lange dem schwachen Edward VIII. die Treue hielt, hätte ihn sogar beinahe das Unterhausmandat gekostet.

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Statue von Winston Churchill in London.
Foto: REUTERS/Eddie Keogh

Immer wieder war der spätere Kriegslöwe Churchill gescheitert; an den Umständen natürlich, aber vor allem doch an sich selbst: an seiner Selbstverliebtheit, seinem Wankelmut, seiner Neigung zum Draufgängertum. Dass er die Konservativen 1904 zugunsten der Liberalen verließ und 20 Jahre später zurückkehrte, sieht nur im Nachhinein nach Größe aus. Kielinger findet dafür ein Wortspiel: "Das Schiff verließ die sinkenden Ratten." Für Zeitgenossen war das prinzipienloser Karrierismus.

Dass er als Innenminister die Armee gegen streikende Arbeiter zu Hilfe holte, nehmen ihm die Bergarbeitergemeinden von Südwales bis heute übel. Auf der Insel brachte er Sozialreformen in Gang, aber der Emanzipation der Völker im Empire stand er im Weg.

Im Ersten Weltkrieg endete seine Amtszeit als Marineminister 1915 mit der Niederlage gegen die Türken bei Gallipoli. Auch wenn das Scheitern des strategisch ehrgeizigen Abenteuers keineswegs allein auf Churchills Konto ging: Die Idee stammte von ihm, und er büßte dafür. "Gallipoli verfolgte Winston für den Rest seines Lebens", vertraute die Witwe später dem Churchill-Biografen Martin Gilbert an.

Malerei und Sport

Zur Bekämpfung seiner Depression entdeckte der längst etablierte Bestsellerautor das Malen und fand dadurch, so Kielinger, "Besänftigung der Unruhe auf dem Grund seiner Seele". Dass der Staatsmann und Literaturnobelpreisträger von 1953 mittlerweile auch zu den anerkannten Malern des 20. Jahrhunderts zählt, verdeutlichte vergangenen Monat eine Auktion bei Sotheby's: Dort wechselte der Goldfischteich von Chartwell für stolze 2,2 Millionen Euro den Besitzer.

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Churchill, der Maler: Das Bild "Goldfischteich von Chartwell" wurde letztes Monat verkauft
Foto: AP Photo/Tim Ireland

Künstlerisch begabt, großzügig, wankelmütig, heroisch - all dies war Winston Churchill, und schon zu Lebzeiten rankten sich um ihn die schönsten Legenden. Dazu gehört auch jene, der passionierte Zigarrenraucher und Champagnerkonsument habe auf die Frage, wie man denn alt werde, geantwortet: "No sports." Dabei war er in der Jugend Fechtmeister; Polo spielte er noch mit 50, und dann ließ er sich gar ein beheizbares Schwimmbad bauen. War also Churchill gar ein Vorläufer des heutigen Fitnesskults? Auch 50 Jahre nach seinem Tod gibt es immer noch Neues zu berichten von dieser wahrhaft geschichtlichen Figur.

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Winston Churchill mit seiner Frau Clementin und Tochter Mary Soames.
Foto: AP Photo/Leonard Brown

"Er wurde nicht immer geliebt, aber doch immer respektiert"

Den Mythos um Winston Churchill sieht die britische Politologin Melanie Sully differenziert, weist aber auch darauf hin, dass der Staatsmann schon vor einem halben Jahrhundert vom grenzenlosen Europa träumte.

INTERVIEW: Gianluca Wallisch

Winston Churchill erfährt auch 50 Jahre nach seinem Tod viel Verehrung. Ein gerechtfertigter Mythos?

Über Churchill wurde viel gesagt und geschrieben, aber nicht alles war positiv. Vieles war sogar richtig kritisch. Unbestritten ist, dass er eine große Rolle gespielt hat im Zweiten Weltkrieg. Man soll den Mythos aber nicht übertreiben. Er hat auch viele Fehler gemacht. Es gab durchaus Flops in seiner Karriere, vor allem am Anfang des Krieges. Und er wurde nicht immer geliebt, aber doch immer respektiert.

Was machte seinen Erfolg aus?

Seine Reden. Er konnte verzweifelten Menschen Mut machen, nicht aufzugeben. Die Menschen konnten lange Zeit viele Passagen seiner Reden auswendig rezitieren! Seine Ansprachen waren für jedermann leicht verständlich und einprägsam. Das war seine große Begabung: Mit den Menschen reden, in einer sehr eleganten Sprache, aber immer auch sehr klar. So sagte er zu Beginn seiner Amtszeit als Premier 1940, er werde nichts verbergen: Viel sei schief gegangen, vieles werde noch schlimmer werden. Das haben die Leute verstanden: Gut, wir müssen uns darauf einstellen.

"Churchill war immer ein Kämpfer für eine freie Welt, und zwar um jeden Preis."
Foto: gogov/Bergemayer

Churchill scheint auch heute sehr präsent zu sein in der kollektiven Erinnerung. Was machte seine "trade mark" aus?

Churchill war immer ein sehr moderner Politiker. Er wusste, dass er mit den Menschen reden muss, dass er ihre Nähe suchen muss. Und er wusste sich zu inszenieren, etwa mit seinem berühmten Gehstock. Als er Premier wurde, war er schon 65 und nicht mehr gut zu Fuß. Normalerweise wäre ein Gehstock ein Zeichen der Schwäche. Doch er verstand es, ihn zum Machtsymbol zu machen, etwa wenn er ihn bei seinen Reden in der Luft schwang. Auch von Margaret Thatcher sagt man, ihre Handtasche sei nicht Symbol weiblicher Schwäche, sondern großer Macht gewesen.

Machen wir einen Sprung in die Gegenwart: Was würde Churchill von der EU halten?

Er war durchaus jemand, der seine Meinung ändern konnte. Er hat ja auch mehrmals seine Parteizugehörigkeit gewechselt. In vielen ideologischen Angelegenheiten erwies er sich als absolut nicht stur. Interessanterweise werden heute Churchills Zitate zu Europa gleichermaßen von EU-Skeptikern wie auch von den Befürwortern verwendet. Er sah für Großbritannien - meist sprach er nur von England - jedenfalls eine Führungsrolle vor, und zwar gemeinsam mit Frankreich. Zweifellos lag der Grund für diese Sichtweise in der Sorge vor Deutschland. Dann träumte er aber auch gern von einem Europa ohne Grenzen, in dem man sich ungehindert bewegen kann. Die Führungsrolle Englands musste aber stets im Vordergrund bleiben, andernfalls würde sein Land isoliert werden, das war seine Sorge.

Und was würde er von der aktuellen Diskussion über einen britischen EU-Austritt halten?

Im Mittelpunkt seiner Überlegungen würde wohl, wie immer, die Frage stehen: Wie kann man Englands Macht maximieren und absichern? Besser außerhalb der Union oder innerhalb? Aber natürlich kann ich nur spekulieren; allzu viel hat sich in diesen 50 Jahren verändert. Der Commonwealth verliert stetig an Bedeutung, die Partnerschaft zu den USA ist nicht mehr so intensiv und wird hinterfragt, die Verhältnisse in Europa sind heute so völlig anders als damals. In jedem Fall hätte er aber nichts gutgeheißen, was England nicht nützt oder gar schwächt. Alles deutet darauf hin, dass er nicht gegen eine EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreiches war, zu der es dann 1973, acht Jahre nach seinem Tod, kam.

Wie würde er heute mit dem Thema Terrorbedrohung umgehen?

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Der Begräbniszug vom 30. Jänner 1965.
Foto: AP

Churchill war immer ein Kämpfer für eine freie Welt, und zwar um jeden Preis. Niemals kapitulieren, das war der "Churchillian Spirit". Natürlich waren die Rahmenbedingungen damals andere, denn die Gefahr kam von außen, von jenseits des Ärmelkanals. Heute haben wir es mit einem Gefahrenpotenzial von innen zu tun. Das Szenario ist längst nicht mehr so einfach, sondern wesentlich komplexer geworden. Für die Freiheit der Engländer zu kämpfen bedeutet heute, für eine vielschichtige, multiethnische und multikulturelle Gesellschaft zu kämpfen.

Gehört Winston Churchill in eine Top-5-Liste der großen britischen Persönlichkeiten?

Ja, ja, zweifellos. Nicht alles war zu jeder Zeit positiv. Dennoch gebührt ihm auf jeden Fall Anerkennung. Und diesen Respekt spürte man auch damals bei seinem Begräbnis: Normalerweise würde ein Monarch bei einem Staatsbegräbnis als Letzter erscheinen. Nicht so am 30. Jänner 1965: Da wartete sogar Queen Elizabeth II auf den Sarg mit dem Verstorbenen. Und schon damals wusste ich als Teenager: Eine so starke Persönlichkeit wird es lange Zeit nicht mehr geben.

Melanie Sully (65), britische Politologin und Publizistin, ist seit 2012 Leiterin des in Wien ansässigen Go-Governance-Instituts und war davor von 1992 bis 2010 Professorin an der Diplomatischen Akademie in Wien.