Foto: Otto-Müller-Verlag

Wird einem Anspruch politischer Aufklärung, der durch Jahrhunderte das Selbstverständnis europäischer bürgerlicher Eliten geprägt hat, durch die Flut von kalkulierten und bestens dotierten Fehlinformationen seine Lächerlichkeit und Ohnmacht nicht tagtäglich vorgeführt? Und welche Wege aber finden Autorinnen und Autoren heute, sich ein gesellschaftliches Engagement zu erhalten, obwohl sich die sogenannte Öffentlichkeit jedem Ansatz einer gesellschaftlichen Selbstreflexion gegenüber taub stellt?

Erwin Riess sendet zum fünften Mal sein dialektisches Heldengespann, den transdanubischen Ich-Erzähler und Rollstuhlfahrer Groll, ein freier Agent der Zeitgeschichte mit proletarischer Inklination, und den aus Hietzinger Fabrikantenhaus stammenden kriminalsoziologischen "Dozenten", auf Erkundungsfahrt an die Abgründe der Gegenwart aus.

Unbeschreiblich und atemraubend ist die Fülle von ökonomischen, historischen und kulturellen Fakten, von zeitgeschichtlichen und technischen Details, die Groll in seinem Bericht von einer in fürchterlicher Sommerhitze, die dem neuen Linzer Opernhaus die Stahlträger biegt, unternommenen Fahrt an den in Wien-Floridsdorf residierenden "Ständigen Ausschuss zur vollständigen Klärung sämtlicher Welträtsel" zur Sprache bringt. Zur Illustration eine kleine Auswahl: der Neoabsolutismus unter Metternich, der Verkauf des Containerhafens Odessa an den Hamburger Hafen, der Kremser Verzinker und Fremdenlegionär Karl Ettenauer in der Gefangenschaft Ho Chi Minhs, das christliche Wirken des heiligen Severin, das größte Kriegsgefangenenlager der Ostmark in Gneixendorf bei Krems, die Zeugnisse einer prähistorischen Donauzivilisation, das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker als Erfindung der Nationalsozialisten, der Kampf gegen Napoleon bei Loiben, der freundschaftliche Zitronenzuchtwettstreit zwischen Graf Schönborn und Prinz Eugen, Friedrich Hölderlins Hymne Der Ister, die fehlenden Zugangshilfen für Behinderte in den nobelsten Lokalen der Region.

Riess' Anspruch ist nichts weniger als universal, das Rüstzeug seiner literarischen Umsetzung zimmert er sich listig und lässig aus Versatzstücken des europäischen Schelmenromans und dem Muster "Serienkrimi" zusammen. Herausgekommen ist dabei diesmal ein alternativer Kultur- und Reiseführer der ob ihrer landschaftlichen Schönheit und ihres kulturellen Reichtums weltweit bepreisten Wachau, durchwirkt von filmreifen Action-Einlagen. Unversehens gewinnt das Buch Qualitäten eines experimentellen Montageromans, ohne dabei aus dem Geleis einer realistischen Erzählweise zu geraten.

"Das Nebengeräusch" nennt der "Dozent" seinen in ruinöse Machenschaften verwickelten Schwager, einem glücklosen Architekten, der krankenhausreif geprügelt wird und dem Groll auf geheimen Auftrag der Hietzinger Matriarchin nachspürt. Als "Nebengeräusche" aber erscheinen eigentlich alle Figuren des Romans angesichts der Macht der Geschichte und ihrer Erblast, die sich in diesen uralten Zivilisationsraum eingefressen hat.

Der ukrainische Oligarch Grigori Melechov kreuzt mit Tochter Aksinja und Sohn Semjon mehrfach die Wege des in der Spur des schlauen Sancho Pansa einherrollenden Groll und seines weltfremden Begleiters.

Die Einsicht, dass die Eindeutigkeit historischer Fakten von der Konstitution ihrer Interpreten abhängt, blitzt auf den verschiedenen Ebenen der entlang der topografischen Merkmale der Fahrstrecke entwickelten Episodenfolge auf, nicht zuletzt durch zahlreiche, satirisch zugespitzte Übertreibungen. Mehrdeutig bleibt auch die Rolle des Oligarchen: Aus der angestammten Perspektive Grolls ist er ein Klassenfeind, zugleich aber Sohn eines im Wachauer Stalag von den Nationalsozialisten ermordeten Soldaten, als potenzieller Käufer eines Weingutes erscheint er wie ein Retter vor der schrankenlosen und vor keinem Verbrechen zurückschreckenden Geldgier der heimischen Weinritterschaft, und letztlich sitzt er nicht nur geschäftlich, sondern auch tatsächlich mit der Wiener Fabrikantin im gemeinsamen Boot; überdies verdankt er seinen Namen Michail Scholochows so wirkmächtigem wie umstrittenem Roman Der stille Don: eine verschmitzte Reminiszenz einer früheren Lesebegeisterung.

Erlittene Lebenstraumen

Mitten in aller Turbulenz der im Tempo einer "Screwball-Comedy" gezeichneten Szenerie von Racheakten, Wehrsportübungen, Auftritten der Bürgerwehr, strategischen Liebeskalkülen und halsbrecherischen Rollstuhl-Rallyes in den steilen Weinbergen tauchen weitere Residuen einer nach innen gerichteten Kindheits- und Jugenderinnerung von Grolls Alter Ego Erwin Riess auf. Während das Memento der verschollenen Jugendliebe Helga noch Teil der Handlungswirbel aus Realität und Fiktion bleibt, öffnet die diskrete Hommage an den früh verstorbenen Vater, tüchtiger Techniker und beliebter Betriebsleiter der verstaatlichten Hütte Krems, den Einblick auf real erlittene Lebenstraumen der Menschen, die auf dem Gelände des Werkes und der damit verbundenen Siedlung in Krems-Lerchenfeld ihr labiles Gleichgewicht gefunden hatten.

Ungeschminkt zeigt der Roman das heutige Trümmerwerk der Privatisierung jenes damals ökonomisch bewährten Arbeits- und Lebensmodells, Prekariat und Entrechtung samt Erschießung im Supermarkt an der Pforte eines vielbesungenen Landstrichs, der seit dem Jahr 2000 als Weltkulturerbe deklariert ist.

Erwin Riess ist das Kunststück gelungen, für eine Unsumme von überraschenden Motiven, witzigen Flunkereien und brisanten Themen eine so schlüssige wie brüchige literarische Form gefunden und damit der gegenwärtigen maßlosen Konkurrenz- und Gewinnmaximierungsgesellschaft entlang beider Ufer der Donau ein wahrhaftiges Zerrbild gewonnen zu haben. Sie werden lachen, es empfiehlt sich, dies und alles andere nachzulesen: Was aber jener tuet, der Strom, weiß niemand. (Kurt Neumann, Album, DER STANDARD, 17./18.1.2015)