Es hätte eigentlich ein diplomatischer Entspannungsbesuch werden sollen, um die seit Jahren wegen Menschenrechtsverletzungen und Mängeln in der Justizpolitik eingefrorenen Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU wieder in Gang zu bringen. Nach den Mordanschlägen von Islamisten in Paris vergangene Woche wurde der seit Monaten geplante erste Besuch des türkischen Premierministers Ahmet Davutoglu am Donnerstag in Brüssel jedoch zur verbalen Gratwanderung - insbesondere für EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und den Ständigen Ratspräsidenten Donald Tusk.

Diesen beiden hatte der Premier am Tag nach dem Erscheinen der jüngsten Ausgabe der Satirezeitung Charlie Hebdo einige vergiftete Sätze zu Presse- und Meinungsfreiheit vorausgeschickt: "Pressefreiheit bedeutet nicht Freiheit zur Beleidigung", sagte Davutoglu vor seiner Abreise in Ankara zum Abdruck einer Mohammed-Karikatur auf der Titelseite des Magazins unter dem Titel "Alles ist vergeben". Dabei verstand der türkische Regierungschef aber keinen Spaß. In seinem Land erlaube man keine Beleidigung des Propheten, erklärte er, wenn es um den Propheten gehe, könne man das nicht als Pressefreiheit sehen. Die neuerliche Publikation sei eine Provokation.

Gleichzeitig verglich er den israelischen Premierminister mit den Attentätern von Paris, die wie dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt hätten.

Juncker und Tusk, die am Sonntag bei der Demonstration für Freiheit und Demokratie neben fast 50 Staats- und Regierungschefs aus aller Welt auf den Straßen von Paris in der ersten Reihe (neben Netanyahu) mitmarschiert waren, durften dies als unakzeptable Attacke betracht haben. Gleichwohl wollten sie die Beziehungen zur Türkei nicht noch weiter belasten und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit betonen - nicht zuletzt bei der Bekämpfung der Islamisten. Die linksnationalistische Zeitung Cumhuriyet veröffentlichte indes die Karikaturen im Internet. Ein Gericht in ordnete die Schließung der Seiten an. (Thomas Mayer aus Brüssel, DER STANDARD, 16.1.2015)