Ein Kioskinhaber auf den Pariser Champs-Élysées erzählt, er habe so etwas noch nie erlebt: 50 Stammkunden hatten die erste Ausgabe von "Charlie Hebdo" nach dem Terroranschlag reserviert, und etwa 500 weitere hätten sich bis Mittag danach erkundigt. Dabei hatte er nur eine Handvoll Exemplare erhalten. Sie gingen schneller weg als die sprichwörtlichen warmen Semmeln. Die Auflage wird nun auf fünf Millionen Stück erhöht. In den nächsten Tagen sollen sie ausgeliefert werden. Viele Kunden erklärten, ihnen gehe es nicht nur um den Inhalt: Sie wollten auch ein Sammlerstück behalten oder "ein Zeichen setzen" für die Meinungsfreiheit.
Der gewaltige Run auf die Satirezeitschrift kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch harsche Kritik und Distanzierung gibt. Die großen muslimischen Organisationen wie UOIF und CFCM hatten zwar zur Zurückhaltung und teilweise sogar zur Teilnahme an der Solidaritätskundgebung am Sonntag aufgerufen; doch auf Facebook vereint die Adresse "Je ne suis pas Charlie" (Ich bin nicht Charlie) schon mehr als 35.000 "Likes". Dort wird die Satirezeitschrift als islamfeindlich hingestellt.
Kritik kam auch aus Teilen der muslimischen Welt, etwa von Religionsgelehrten aus Ägypten dem Iran und den Philippinen. An mehreren Vororteschulen hören Lehrer sogar den höhnischen Spruch "Je suis Kouachi", wie die zwei Terroristenbrüder hießen; in Haftanstalten wurden Schweigeminuten durch den Ruf "Allahu Akbar" gestört.
Auch der Komiker Dieudonné Mbala Mbala twitterte nach der Großdemo am Wochenende: "Was mich betrifft, bin ich heute Abend Charlie Coulibaly" – eine Bezugnahme auf den dritten Attentäter. Am Mittwoch nahm ihn die Polizei auf Weisung der Regierung wegen Terrorismusverherrlichung in Untersuchungshaft.
Valls fordert "nationale Einheit"
Die scharfe Reaktion trägt die Handschrift von Premierminister Manuel Valls. Am Vortag hatte er die nationale Einheit beschworen, nachdem Abgeordnete erstmals seit dem Ersten Weltkrieg spontan die "Marseillaise" angestimmt hatten. Valls weiß aus seiner Zeit als Innenminister, dass der nationale Schulterschluss am Eingang zu den Banlieue-Vierteln haltmacht. Das zeigen nun Reaktionen auf Dieudonnés Festnahme. "Warum hat 'Charlie Hebdo' das Recht, sich zu äußern, nicht aber Dieudonné?", lautete am Mittwoch eine von vielen ähnlichen Fragen. Valls hatte die Antwort schon gegeben: "Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen der Freiheit zur Frechheit und Antisemitismus, Rassismus, Terrorverherrlichung und Negationismus."
Dieudonné ist für solche Tatbestände schon mehrfach verurteilt worden. Der 48-Jährige hat in den Banlieue-Vierteln eine große Fangemeinde – und dazu beigetragen, dort lebende Juden und Muslime zu entzweien. Lehrer berichten immer wieder, sie könnten im Unterricht nicht mehr über den Holocaust reden, ohne auf Widerstand der Schüler zu stoßen. "Das verbreitet sich in all unseren Wahlkreisen", sagte der konservative Abgeordnete Pierre Lellouche.
Nährboden für Banlieue-Terroristen
Und dieser Diskurs bildet auch einen Nährboden für die sogenannten Banlieue-Terroristen wie die Kouachis und Coulibaly. Dieses Trio war allerdings auch anderweitig beeinflusst: Am Mittwoch wurde ein Video von Al-Kaida im Jemen publik, wonach das Terrornetzwerk die Attentäter "ausgebildet, finanziert und rekrutiert" hat. Die Bekennerbotschaft bestätigt Annahmen von Terrorexperten, dass die Pariser Anschläge von langer Hand geplant und koordiniert waren.
Sorgen machen sich nicht nur die Regierung und die jüdische Gemeinschaft, sondern auch das Satireblatt "Le Canard enchaîné", das eine fast zehnmal so hohe Auflage wie "Charlie Hebdo" hat. Obwohl es subtiler auftritt, erhielt es am Tag nach der Ermordung der "Charlie"-Zeichner eine Drohung per E-Mail: "Ihr seid als Nächste dran." Die Karikaturisten würden "mit einem Beil" zerstückelt. Der Polizeischutz vor der "Canard"-Redaktion wurde verstärkt. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 15.1.2015)