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Vielerorts denkt man über Maßnahmen zum Schutz besiedelter Küsten vor dem steigenden Meeresspiegel nach. Die aktuellen Daten zeigen, dass die Zeit knapp werden könnte.

Foto: REUTERS/Mal Langsdon

Boston/Wien - So viel ist gewiss: Das allmähliche Ansteigen des Meeresspiegels als Folge des Klimawandels ist schon lange keine bloße Theorie mehr. Bisherige Messungen ergeben für das vergangene Jahrhundert einen Anstieg von durchschnittlich 1,5 bis 1,8 Millimeter pro Jahr. US-Wissenschafter haben sich nun alle dazu verfügbaren Daten genauer angesehen und neue Berechnungen angestellt. Als Resultat verkündeten sie eine zumindest vordergründig gute Nachricht: Das Meeresniveau stieg vor der Jahrhundertwende weit weniger stark als gedacht.

Nur für die vergangenen zwei Jahrzehnte konnten sie die bisher gültigen Annahmen bestätigen - und dies ist die schlechte Nachricht, denn damit hat der Anstieg des Meeresspiegels signifikant an Fahrt aufgenommen. "Unsere Untersuchung belegt klar eine höhere Beschleunigung des Meeresspiegelanstiegs", erklärt Eric Morrow, Koautor der in der Fachzeitschrift "Nature" erschienen Studie. "Offenbar ist dieses Problem größer als wir bisher angenommen hatten."

Lücken in den Daten

Veränderungen des globalen Meeresspiegels werden vor allem mit Hilfe von Messdaten von Gezeitenpegeln errechnet. Einige Messstationen zeichnen schon seit dem 18. Jahrhundert die Pegelstände auf. Allerdings sind die Stationen insgesamt rar und vor allem in Küstennähe und auf der Nordhalbkugel zu finden. Oft sind die Aufzeichnungen auch lückenhaft, sodass die Zuverlässigkeit der Ergebnisse insgesamt beeinträchtigt ist.

Die bisher erhobenen Werte von 1,5 bis 1,8 Millimeter pro Jahr schienen einigen Fachleuten zu hoch, weil die einzelnen Quellen für den Anstieg des Meeresspiegels - das Schmelzen von Gletschern und Eisflächen, die wärmebedingte Ausdehnung des Wassers und eine veränderte Speicherung an Land - nur einen geringeren Anstieg erklären können.

Daher entschieden sich die Forscher rund um Carling Hay von der Harvard University in Cambridge für einen neuen Weg und nahmen sich die bestehenden Messwerte unter anderem mithilfe einer speziellen statistischen Methoden vor, der sogenannten Kalman-Glättung. Diese mathematische Vorgehensweise erlaubt es, räumlich und zeitlich unvollständige Datensätze unter bestimmten Wahrscheinlichkeitsannahmen zu analysieren. Dabei wurden sowohl die gemessenen Pegelstände als auch die dem Anstieg zugrundeliegenden Prozesse berücksichtigt.

Rasanter Anstieg

Das Ergebnis zeigte, dass man sich bisher offenbar gründlich verschätzt hatte: Zwischen 1900 und 1990 stiegen die Ozeane durchschnittlich statt um 1,8 "nur" um 1,2 Millimeter pro Jahr. Für die Zeit zwischen 1993 und 2010 decken sich dagegen ihre Resultate von rund drei Millimeter pro Jahr mit den bisherigen Annahmen - und dies kann nur eines bedeuten: Der Meeresspiegel stieg zuletzt schneller als befürchtet.

"Das alles bereitet uns Kopfzerbrechen", meint Morrow. "Wenn wir den Anstieg bisher überschätzt haben, heißt das, dass die bestehenden Modelle nicht haltbar sind - was wiederum an der Gültigkeit aktueller Prognosen für die kommenden Jahrzehnte zweifeln lässt." (Thomas Bergmayr, red/DER STANDARD, 15.1.2015)