Wolfgang Weisgram hat am Wochenende im STANDARD-Album den vor 26 Jahren tödlich verunglückten ehemaligen Sozialminister Alfred Dallinger als verlorene Chance der Sozialdemokratie beschrieben, dem neoliberalen Angriff auf den Sozialstaat und das Gemeinwohl einen echten Widerstand entgegenzusetzen.
In dem eindringlich geschriebenen Text erzählt Weisgram, wie, inspiriert von Milton Friedmans Chicago-Boys, ab den 1980er-Jahren die Vertreter eines ungehemmten Kapitalismus, geführt von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, einen Vernichtungsfeldzug gegen die seit 1945 in Europa geschaffene Gerechtigkeit und Menschlichkeit geführt haben – und die Sozialdemokraten von Tony Blair über Gerhard Schröder bis Josef Cap sich dem aus Feigheit und Visionslosigkeit unterworfen haben.
Die unausweichlichen Folgen dieses Versagens waren Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und die Schaffung einer Zweidrittelgesellschaft mit der Verarmung von weiten Teilen der Bevölkerung.
Ein unbestreitbares Faktum
Weisgram vergleicht diese dramatische Entwicklung gar mit dem Bolschewistenputsch von 1917. Das gleiche Narrativ wird, wenn auch meist etwas weniger radikal, von vielen Journalisten, Universitätsprofessoren und Politikern als unbestreitbares Faktum vertreten.
Die Story hat allerdings einen Fehler: Sie stimmt nicht. Die neoliberale Revolution hat nie stattgefunden.
Das belegen die entsprechenden Zahlen – etwa jene der OECD über Steuer- und Abgabenquoten. Wenn der Neoliberalismus seit 35 Jahren in Europa wütet, dann müsste sich die Rolle der öffentlichen Hand in der Wirtschaft doch deutlich reduziert haben. Und das würde sich in einer niedrigen Abgabenquote niederschlagen, über die Staatsaufgaben ja zum Großteil finanziert werden.
Die Abgabenquoten sind überall gestiegen
Doch die Steuer- und Abgabenquoten sind von 1979 bis 2013 überall in der OECD weiter gestiegen, selbst in den neoliberalen Hochburgen USA und Großbritannien. In Österreich stieg sie von 38,2 auf 42,5 Prozent, in Deutschland von 36,4 auf 36,7 Prozent und im Durchschnitt aller OECD-Länder von 30,0 auf 34,1 Prozent.
Eine neoliberale Revolution mit rücksichtslosem Sozialabbau sieht anders aus.
Nun könnte man argumentieren, dass zwar die Steuern gestiegen sind, aber der Staat sich durch den drastischen Abbau von Regulierungen aus der Wirtschaft zurückgezogen hat. Das lässt sich weniger gut mit Zahlen be- oder widerlegen – allerdings mit einer nüchternen Abwägung.
Die Finanzmärkte wurden seit 1980 sicher dereguliert, ebenso einige Produkt- und Unternehmensbereiche. Aber im Umweltschutz, im Verbraucherschutz und im Arbeitsrecht hat die Regulierungsdichte deutlich zugenommen. Insgesamt haben Unternehmen heute zwar mehr Freiraum als früher, müssen aber auch viel mehr Vorschriften befolgen. Sie dürfen mehr und müssen mehr. Ein Zeichen neoliberaler Zerstörungswut ist das nicht.
Es wird mehr vom Staat verlangt
Für den Anstieg der Staatsquote in den letzten Jahrzehnten gibt es gute Gründe. Die Aufgaben der öffentlichen Hand sind gewachsen, komplexer und teurer geworden – im Pensionssystem, im Gesundheitswesen, aber auch in der Bildung. Viele Leistungen, die heute als selbstverständlich angenommen werden, waren in der goldenen Kreisky-Ära unvorstellbar. Wer hätte damals ein Pflegefeld verlangt, eine Gratiszahnspange oder Zusatzlehrer für Schüler mit besonderen Bedürfnissen? Auch unserer Gesellschaft kümmert sich heute viel mehr um die Schwachen und Ausgegrenzten als vor einer Generation.
Warum wird das von so vielen nicht wahrgenommen? Nun, der stetige Anstieg der staatlichen Leistungen ist viel weniger bemerkbar als der gelegentliche Abbau. Dazu kommt, dass oft an der falschen Stelle gespart wird, weil man gewisse Interessengruppen schonen will. So werden bei Budgetproblemen eher Sozialarbeiter eingespart als Verwaltungsbeamte.
Globalisierung verschärft Ungleichheit
Außerdem hat die ebenfalls in den 1980er-Jahren eingesetzte Globalisierung, vor allem der Eintritt Chinas und anderer großer Schwellenländer in die Weltwirtschaft, die Ungleichheit in den reichen Ländern verstärkt. Das war aufgrund ökonomischer Gesetze (siehe das Stolper-Samuelson-Theorem) unvermeidbar. Dem haben die Staaten in Europa zwar einiges entgegengehalten – aber weniger als in den Jahren zuvor.
Denn wenn man sich die bis auf 1965 zurückgehende Zahlenreihe der OECD ansieht, wird sichtbar, dass die Abgabenquote in den 15 Jahren bis 1980 stärker gestiegen ist als danach. Der Staat wurde zwar nicht zurückgedrängt, aber sein Wachstum gebremst.
Das schätzen viele Linke als Fehler ein – und vielleicht haben sie recht. Es gibt legitime Argumente dafür, dass die Abgabenquote in einer reichen, modernen Gesellschaft mit all ihren vielfältigen Bedürfnissen über 50 Prozent liegen sollte. Das tut sie allerdings nicht einmal in Dänemark.
Die Bürger wollen nicht mehr Staat
Und wer das fordert, muss sich bewusst sein, dass die Mehrheit der europäischen Wähler das nicht will. Sonst würden überall in Europa linke Parteien regieren. Wer Demokratie respektiert, muss auch die tiefe und nachhaltige Ablehnung der Bürger eines zu dominanten Staates akzeptieren.
Die von so vielen Wohlgesinnten verbreitete Mär von der neoliberalen Revolution richtet geistige und politische Schäden an. Sie erschwert eine sinnvolle Debatte über die Aufgaben des Staates und diskreditiert die Erfolge der Sozialdemokratie und der christdemokratischen Parteien, trotz des Gegenwinds aus der Weltwirtschaft Sozialstaat und eine weitgehend gerechte Gesellschaft zu erhalten.
Gegen den Mythos eines Alfred Dallinger, der mit Maschinensteuer und Arbeitszeitverkürzung den neoliberalen Drachen hätte töten können, wenn sein Flieger nicht im Bodensee abgestürzt wäre, hat keiner der heutigen sozialdemokratischen Politiker eine Chance. (Eric Frey, derStandard.at, 14.1.2015)