Angesichts von Anschlägen wie jenem auf "Charlie Hebdo" wäre es "die größte Dummheit, jetzt auf Repression zu setzen", sagt der Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker. Rechts im Bild sein Name in arabischer Schrift.

Foto: STANDARD/Corn

STANDARD: Wie ist es möglich, in der Analyse der Anschläge auf "Charlie Hebdo" oder anderer islamistisch motivierter Attentate einerseits nicht von Einzeltätern Rückschlüsse auf eine gesamte Religionsgemeinschaft zu ziehen und andererseits die religiöse Dimension ausreichend zu berücksichtigen?

Lohlker: Das ist eine schwierige Frage. In der Analyse solcher Attentate müssen wir mehrere Ebenen betrachten. Zunächst gibt es eine soziale Dimension: Meist handelt es sich bei Terroristen um marginalisierte Personen, die in einer Gesellschaft an den Rand gedrängt wurden. Es gibt eine individuelle Dimension: Auch bei früheren Attentaten hat man gesehen, dass oft eine persönliche Krise zur Radikalisierung geführt hat. Und es gibt die religiöse Dimension: Die Subkultur des Jihadismus, an die solche in eine Krise geratene Personen andocken können, beruft sich auf religiös formulierte Vorstellungen, die aber nicht unbedingt viel mit der religiösen Tradition zu tun haben.

STANDARD: Wie viel hat der Jihadismus tatsächlich mit dem Islam zu tun?

Lohlker: Jihadistische Ideologen beuten die islamische Tradition ganz gezielt aus, um sich religiöse Legitimität zu verschaffen. Der Begriff des Jihad hat sehr viel mehr Dimensionen als nur den bewaffneten Kampf. Um das zu verstehen, muss man sich die Mühe machen, jihadistische Publikationen zu studieren. Ich weiß, wovon ich spreche, wenn ich sage, dass das keine besonders angenehme Lektüre ist. Aber wenn man das liest und sich zugleich in verschiedenen islamischen Gelehrtentraditionen auskennt, wird man feststellen, dass es einen gravierenden Unterschied zwischen der Tradition des Jihad und dem heutigen Jihadismus gibt. Er ist aus bestimmten historischen Gründen entstanden, etwa durch den Kolonialismus und die Situation, dass einige arabische Länder genügend Mittel hatten, um Strömungen, die sich vom Westen abgrenzten, zu fördern. Das ist ein vorbereitetes Schlachtfeld. Der jihadische Terrorismus ist das Produkt einer speziellen modernen historischen Situation - und nicht das logische Produkt des Islams, das wäre völlig irrig anzunehmen. Es wird viel über den Islam geredet, aber wenig darüber gewusst.

STANDARD: Wodurch hat der Jihadismus in Europa Zulauf erfahren?

Lohlker: In Europa und besonders in Österreich haben wir die Situation, dass es viele Jugendliche gibt, die nach einer Ausdrucksform suchen, um sich gegen die Gesellschaft zu wenden. Wenn diese Jugendlichen mit den falschen Leuten in Kontakt kommen - wie offenbar auch im Fall der Charlie Hebdo-Attentäter -, besteht die Gefahr der Radikalisierung. Manchmal kommt es vor, dass die Medien das Interesse der Jugendlichen wecken. Wann kommt ein 16-Jähriger sonst schon in die Zeitung? Das geht als Jihadist hervorragend. Außerdem ist im Internet ein Netzwerk von Rekrutierern präsent. Irgendwann lernt man so jemanden kennen, der eine Reise nach Syrien organisiert - und schon ist man im Jihad. Meist spielen viele Kontakte und Netzwerke in der Radikalisierung zusammen, deswegen muss man das von Fall zu Fall betrachten.

STANDARD: Warum fühlen sich gerade Jugendliche vom Jihad angezogen?

Lohlker: Meist hat es sehr wenig mit Religion zu tun, sondern es steckt eher eine allgemeine Teenagerunzufriedenheit dahinter, die aus allen möglichen Ursachen gespeist wird. In die Krise geratene Jugendliche suchen einen Ausweg - manche im Shisha-Rauchen, andere im Jihad. Der Jihad ist da sehr attraktiv, wenn ich mich laut zum "Islamischen Staat" bekenne, gehen im Umfeld alle Alarmglocken los - das ist für Teenager sehr attraktiv.

STANDARD: Sie schreiben in Ihren Publikationen von "home-grown terrorists" - was versteht man darunter?

Lohlker: Es sind einheimische Terroristen, die oft einer multiethnischen, multilingualen Subkultur angehören - ganz im Gegensatz zum klassischen Jihadismus. Sie sind in unserer Gesellschaft groß geworden und keine Gefahr von außen. Man kann sie als eine besonders gefährliche Jugendkultur sehen. Oft geraten auch Leute hinein, die keinen Migrationshintergrund haben und vor einem halben Jahr nichts über den Islam wussten. In Österreich hat man das letzten Sommer gesehen. Einige Lehrer haben von Schülern berichtet, die vor den Ferien noch völlig normal waren, und als die Schule im Herbst wieder losging, hieß es nur noch Jihad.

STANDARD: Laut Innenministerium sind bisher mehr als 170 Personen in den Jihad gezogen - warum fühlen sich in Österreich anteilsmäßig mehr Menschen als in anderen europäischen Ländern vom Jihad angezogen?

Lohlker: Es gibt keine vernünftige Erklärung dafür. Ich würde nicht sagen, dass es in Österreich einen speziellen Fehler gegeben hat. Wir haben wohl einfach Pech gehabt. Aber auch Frankreich ist sehr stark betroffen, und dort muss man davon ausgehen, dass es eine noch viel höhere Dunkelziffer gibt.

STANDARD: Wie unterscheidet sich der Jihadismus in Österreich von jenem in Frankreich?

Lohlker: Es gibt einen großen Unterschied in der Grundstruktur: In Frankreich spielen die Banlieues bei der Rekrutierung eine wichtige Rolle - es gibt hier einen fließenden Übergang von Kleinkriminalität zum Jihadismus. In Frankreich hat außerdem die muslimische Community großteils arabischen Hintergrund und dadurch eher Zugang zur jihadistischen Subkultur, die immer noch zum Großteil Arabisch spricht und schreibt. In Österreich gibt es eher den Balkanlink. Wir sind wichtiges Transitland in die Türkei oder nach Syrien. Dadurch ergeben sich auch die vielen Festnahmen von Personen, die Transporte in den Jihad durchgeführt haben.

STANDARD: Welche Rolle könnten die Muslime bei der Deradikalisierung spielen?

Lohlker: Es wäre die größte Dummheit, jetzt auf Repression zu setzen und jeden Muslim unter Verdacht zu stellen - damit betreiben wir das Geschäft der Terroristen. Wir haben seit 2001 einen "War on Terror" - das Ergebnis davon ist der "Islamische Staat". Wir müssen überlegen, wo wir Muslime finden, die diesem Extremismus kritisch-fundiert entgegenhalten können. In Indonesion fährt gerade eine große muslimische Organisation ein Zentrum hoch, in dem ab Herbst tausende Deradikalisierungsaktivisten ausgebildet werden. Das ist eine wichtige Strategie, die aber in Europa kaum bekannt ist. Nur mit der Demontage der Legitimierung können wir den Jihadisten das Wasser abgraben, eine schwierige Aufgabe, die wir in den letzten Jahren verabsäumt haben - und nun brennt das Dach.

STANDARD: Einer Ihrer Schwerpunkte ist die Online-Präsenz des Jihadismus. Wie gehen Sie dabei vor?

Lohlker: Einerseits machen wir Big-Data-Analysen. Dabei konnten wir zeigen, dass die Versuche, jihadistische Online-Präsenz zu sperren, sehr begrenzt erfolgreich sind: Drückt man dagegen, etabliert sich der Schwarm irgendwo anders neu. Andererseits arbeiten wir an Detailanalysen der Argumentation wichtiger Theoretiker des "Islamischen Staates" und anderer extrem islamistischer Ideen. Daraus können wir hoffentlich Gegenaktivitäten ableiten.

STANDARD: Apropos Gegenaktivitäten - diesbezüglich beraten Sie das Innen- und andere Ministerien - warum?

Lohlker: Wir bieten den Ministerien unsere Expertise an, denn wir wollen nicht im Elfenbeinturm sitzen, in Fachjournalen publizieren, und der Rest ist uns egal - das geht einfach nicht. Es gibt auch ein simples persönliches Interesse: Wenn ich U-Bahn fahre, komme ich gerne am Ende an. (Tanja Traxler, DER STANDARD, 14.1.2015)