"Je suis Charlie." Das konnte man in den vergangenen Tagen in der ganzen Welt sehen, aber was bedeutet "Charlie"? Es steht heute zuerst für die Pressefreiheit. Es war in der europäischen Geschichte noch nie zuvor passiert, dass sieben Journalisten, die wichtigsten einer Zeitung, ermordet wurden. Daher diese weltweite Betroffenheit, es gab in Paris fast so viele Staatsoberhäupter wie vergangenes Jahr bei der Beerdigung Mandelas.
Was ist aber Charlie Hebdo? Eine satirische Zeitung, klar, die mit Brillanz alle Mächtigen, alle Faschisten und auch alle religiösen Fanatiker verspottet, aber auch eine Kulturzeitung, in der jeden Mittwoch die letzten Filme, Bücher oder Ausstellungen besprochen werden. Im Gegensatz zu seinem Pendant Le Canard enchaîné ("Die angekettete Ente") verteidigt Charlie eine politische Linie: links, antifaschistisch und sich stark für die Laizität einsetzend, das heißt die Forderung nach einer Gleichheit zwischen Gläubigen, Atheisten und Agnostikern.
Der Chefredakteur von Charlie Hebdo, Gérard Biard, hat gleich nach dem Anschlag betont, dass die Zeitung die Laizität weiter verteidigen werde und dass die Parole "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", die aus der Französischen Revolution stammt, sich sogar davon ableiten lässt.
Gleiche Rechte?
Was könnte in diesem Zusammenhang "Je suis Charlie" für Österreich bedeuten? "Gleiche Rechte für alle" wäre das Ende von Sondergesetzen wie dem Islamgesetz, dem Israelitengesetz und natürlich dem Konkordat. Dies wird gerne vergessen. Der Chefredakteur des Kurier, Helmut Brandstätter, schrieb in seinem Leitartikel vom 8. Jänner: "Die Schüsse von Paris waren ein Anschlag auf die freiheitliche Gesellschaftsordnung, wie sie in vielen Teilen der Welt aufgebaut wurde und wird. Diese baut auf dem Respekt für Andersdenkende, auf der Trennung von Kirche und Staat und der unbedingten Meinungsfreiheit auf. (...) Freilich müssen Zuwanderer islamischen Glaubens wissen, dass sie unsere Errungenschaften akzeptieren müssen, wenn sie hier bleiben wollen. Dazu gehören die Gleichheit und Gleichbehandlung von Mann und Frau ebenso wie Trennung von Kirche und Staat."
Ist diese Trennung wirklich eine Errungenschaft in Österreich? Hängt kein Kreuz in jeder Schulklasse? Warum stand letzten Sonntag am Ballhausplatz groß, dass es eine "Gedenkkundgebung der Bundesregierung und von Vertretern der Glaubensgemeinschaften" war? "Je suis Charlie" bedeutet unerbittlich mittel- oder langfristig die Abschaffung des Paragrafen 188 Strafgesetzbuch (gegen die "Herabwürdigung religiöser Lehren").
Wie kann es sein, dass die österreichische Regierung den fanatischen Regierenden in Saudi-Arabien so nahesteht? Dass diese für das König-Abdullah-Zentrum "für interreligiösen und interkulturellen Dialog" ein Palais am Ring und eine ehemalige Justizministerin als Vizegeneralsekretärin zur Verfügung bekommen? Letztere darf ohne jegliche Konsequenz die mittelalterlichen Säbel durchgeführten Enthauptungen verharmlosen ("Nicht jeden Freitag wird geköpft"), und wenn ein saudischer Blogger zu zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verurteilt ist, nur weil er liberale Standpunkte verteidigt hat, äußert sich niemand in der Regierung (Kommentar von Heiko Heinisch im STANDARD vom 8. Jänner).
Natürlich kennt die Meinungsfreiheit Grenzen, und es ist gut so. Die unzähligen Prozesse, die Charlie Hebdo in Frankreich gehabt (und fast alle gewonnen) hat, sind gute Beispiele. Verhetzung und Rassismus sind in keinem westlichen Land geduldet. Viele sind der Auffassung, dass Charlie Hebdo zu weit gegangen ist, weil religiöse Figuren verspottet wurden. Keiner war aber gezwungen, die Zeitung zu kaufen, um seine religiöse Gefühle zu verletzen! Das Ziel war weit von unnötigen Provokationen entfernt, es ging eher darum, Denkstrukturen zu hinterfragen und Diskussionen auszulösen (zum Beispiel über Pädophilie in der katholischen Kirche).
Religiöser Lobbyismus
Das Recht auf Religionskritik ist wichtig, weil Religionen oft ein System der Machtausübung und des Lobbyismus installiert haben. Als ich mich zum Beispiel im Frühling letzten Jahres kritisch über die rituelle Beschneidung geäußert habe (Profil vom 5. Mai 2014), ist ein Funktionär der IKG wütend geworden und hat gedroht, mich aus der Israelitischen Kultusgemeinde auszuschließen. Am 30. Oktober bekam ich dann eine E-Mail vom Rabbinat, der zufolge sie "zufällig" bemerkt hätten, dass wichtige Dokumente in meinem Mitgliedsantrag fehlen. Es zeigt vielleicht, wie Glaubensgemeinschaften ängstlich geworden sind und Diskussionen vermeiden.
Es geht aber auch um vieles mehr. Die Mobilisierung für Charlie Hebdo, mit vier Millionen Menschen in Frankreich, hat die Franzosen beruhigt: Die Mythen der Nation existieren immer noch. Mehr als nach der Ehrung der multikulturellen Fußballmannschaft Frankreichs ("Black-Blanc-Beur") 1998, ging es diese Woche um die Definition eines neuen Zusammenlebens gegen Terror.
Die linksliberale Tageszeitung Libération hatte am Montag auf ihre Titelseite "Wir sind ein Volk" ("Nous sommes un peuple"). Ein buntes Volk, nicht "das" Volk, wie es von Pegida-Anhängern gemeint ist. Viele Länder könnten diese traurigen Ereignisse nutzen, um über die eigene Nation zu reflektieren. Charlie zu sein ist gut. Österreich hat aber noch viel zu wenige Charlies. (Jérôme Segal, DER STANDARD, 14.1.2015)