Grafik: STANDARD

Wien - Im US-Wirtschaftsmagazin Forbes erschien vor wenigen Tagen ein Artikel darüber, warum Wirtschaftskrisen Demokratien gefährden. Auch Hitlers Machtergreifung 1933 sei nur vor dem Hintergrund einer Massenarbeitslosigkeit und einer hohen Inflation möglich gewesen, heißt es in dem Text. Das mit der Inflation ist freilich falsch. Nach dem Börsencrash 1929 in den USA stürzte Deutschland tatsächlich in eine Krise mit hoher Arbeitslosigkeit. Doch die Preise stiegen nicht. Sie fielen. Es war die Zeit der Deflation: Zwischen 1929 und 1933 betrug der Preisrückgang in der Weimarer Republik fast 30 Prozent.

Hätte Forbes das mit Inflation und Deflation richtig hinbekommen, der Artikel wäre brandaktuell gewesen. Vergangene Woche wurde bekannt, dass die Preise in der Eurozone erstmals seit 2009 wieder gefallen sind. Von einer Deflation wie in der Weimarer Republik ist Europa weit entfernt: Die Preise sanken um 0,2 Prozent. Doch der Rückgang dürfte laut Prognosen weiter anhalten. Auf den ersten Blick klingt das nicht schlimm. Sinken die Preise, bleibt mehr im Geldbörsel. Doch in der Ökonomie gilt eine anhaltende Deflationsperiode als gefährlich: Sie kann zu einem langen Wachstumseinbruch führen.

Deflationsspirale

Sinken die Preise, können Firmen und Konsumenten versucht sein, ihre Ausgaben zu drosseln, um noch tiefere Preise abzuwarten. Da Waren wie Fernseher und Pkws billiger werden, müssen Firmen zudem ihre Produktionskosten, also Löhne, senken. Sinken die Gehälter, bleibt weniger für den Konsum, und eine Deflationsspirale gerät in Gang. Die Deflation erschwert schließlich Kreditrückzahlungen, weil Schulden in Kaufkraft gerechnet stetig steigen.

Die strittige Frage ist, ob die Deflation in der Eurozone gefährlich ist. In Deutschland und Österreich warnen Analysten vor Panikmache. Der frühere Chefökonom der Europäischen Zentralbank, der Deutsche Jürgen Stark, spricht von einer "Deflationsparanoia".

Von einer "schädlichen Deflation" im klassischen Sinn könne keine Rede sein, schrieb Stark in einem Beitrag für die NZZ. Hauptursache für den Preisverfall sei der drastische Rückgang beim Ölpreis. Das billige Erdöl sei für die ölimportierenden Länder in Europa ein Segen. Die Deflation in Südeuropa sei wiederum Teil des Anpassungsprozesses. Griechenland und Spanien müssen wettbewerbsfähiger werden, also billiger produzieren. Dies schlage sich in der Preisentwicklung nieder.

An einer Nebenfront greifen deutsche Ökonomen lange für gültig gehaltene Thesen über die Deflation an. So hat der Volkswirt Henning Klodt vor wenigen Monaten eine aufsehenerregende Studie vorgelegt. Klodt hat sich Preise und Konsum in Deutschland seit 1994 angesehen. Unzählige Gütergruppen (Elektrogeräte, Fahrräder) sind in der Zeit billiger geworden.

Furcht im Süden

Doch entgegen dem Lehrbuch haben Konsumenten nicht gewartet, sondern im Gegenteil tendenziell sehr schnell mehr billige Güter nachgefragt. Die wissenschaftlichen Fundamente dafür, dass die Deflation den Konsum drückt, sind schwach, schreibt Klodt.

Ist also die Angst übertrieben, sehen viele nur ein Deflationsgespenst? Viel spricht dafür, dass es zwei Wahrheiten gibt. Aus nordeuropäischer Perspektive besteht unmittelbar kein Grund zur Sorge, selbst bei anhaltend niedriger Inflation. Anders dagegen im Süden. Spanien befindet sich seit sechs Monaten in einer Deflation. Auch die Kerninflation, bei der die Rohstoffpreise nicht eingerechnet werden, ist negativ, schreibt die spanische Notenbank in einer Analyse. Die Tendenz verstärke sich. Gleiches Bild in Italien. Kleider, Telekomprodukte, Dienstleistungen, Versicherungen, Hotels: Die Verbilligung erfasse immer mehr Produktgruppen, schreibt die Zentralbank in Rom. Und weiter: Die Kerninflationsrate habe den niedrigsten im Land je gemessenen Stand erreicht. "Zu sagen, hier sei nur eine gute Deflation am Werk, ist falsch", sagt Christian Odendahl, Chefökonom des Londoner Centre for European Reform.

Anhaltender Trend

In Südeuropa habe die schwache Nachfrage von Firmen und Konsumenten die Inflation seit dem Frühjahr 2013 auf einen gefährlich tiefen Stand getrieben. Dieser Trend dürfte weiter anhalten. Zugleich ist von den positiven Wettbewerbseffekten, von denen Stark spricht, wenig zu sehen. Die spanischen Exporte steigen zwar seit langem. Sie tun dies aber nicht im selben Ausmaß wie die Importe - weshalb der Außenhandel in Spanien aktuell erstmals seit Jahren keinen positiven Wachstumsbeitrag liefert. In Griechenland entwickeln sich die Ausfuhren ebenfalls schwach.

Droht also in Südeuropa eine Verschärfung der Deflation wie in den 1930ern? Nein, sagt Odendahl. Aber bereits eine milde Deflation könnte die Wirtschaftsflaute in der Eurozone mitsamt der Rekordarbeitslosigkeit in Spanien und Italien prolongieren. In dieser Situation könne ein weiterer Schock - ein Wachstumseinbruch in den USA oder in China - dafür sorgen, dass Europa erneut in die Rezession schlittert. (András Szigetvari, DER STANDARD, 14.1.2015)