Es gibt Momente, da einem mit einem Schlag die Bedeutung eines historischen Ereignisses trotz tief verwurzelter Skepsis über Massenaufmärsche klar wird. Das erlebte ich am Sonntag während der praktisch ganztägigen Direktübertragung des französischen Fernsehens und der Berichterstattung der BBC und des CNN aus Paris. Es ging ja nicht nur um die Dimensionen dieser wohl größten politischen Demonstration in der Pariser Nachkriegsgeschichte: Die Zahl der Teilnehmer an diesem Protestmarsch wurde auf fast 1,5 Millionen geschätzt. Sie und Hunderttausende im ganzen Land und im Ausland protestierten gegen die Mordserie islamischer Terroristen. Dass Staats- und Regierungschefs aus fünfzig Ländern zusammen mit Präsident François Hollande an diesem Marsch zum Gedenken an die siebzehn Todesopfer kurz teilgenommen haben, war ein zutiefst symbolträchtiger Beitrag zum globalen Kampf gegen Rassismus, Fremdenhass und Intoleranz, und zugleich ein politischer Erfolg für den Staatspräsidenten, der in diesen Tagen, für viele überraschend, Entschlossenheit und Führungskraft bewiesen hat.
Die französische Medienkritik wegen der Anwesenheit von Gästen aus Ländern, wo die Menschenrechte und die Pressefreiheit verletzt werden, war zwar berechtigt, aber unter den gegebenen Verhältnissen wohl staatspolitisch unvermeidbar. Immerhin marschierten in der allerersten Reihe mit Hollande und Angela Merkel auch solche erbitterten Gegner wie die Regierungschefs Israels, der Türkei und der Palästinenser.
Besonders eindrucksvoll für viele Beobachter waren die Besonnenheit, die Würde, die völlige Absenz von Hassparolen, auch in den einzelnen Interviews, und nicht zuletzt die sichtbare kulturelle Vielfalt bei dem Aufmarsch. Der angesehene französische Islam-Experte Gilles Keppel wies vor den Demonstrationen darauf hin, dass die terroristischen Anschläge das Ziel hätten, Angst zu verbreiten und potenzielle Sympathisanten für den Islamismus zu begeistern. "Diesen ideologischen Sieg verhindert man, indem man zeigt, dass die Menschen zusammenstehen und sich das Land nicht spalten lässt." All das hat dieser Sonntag eindrucksvoll bestätigt.
Man darf aber jene hunderttausende, vor allem junge Muslime nicht vergessen, die diesen und anderen Kundgebungen bewusst ferngeblieben sind. Der deutsch-türkische Publizist Deniz Yücel meint, die Muslime müssen sich dem Problem stellen, dass diese Irren Teile des Islams sind - und die weltweit meisten ihrer Opfer selber Muslime. Zwar bezeichnete sogar der wortgewaltige Henry Bernard-Levy die Mörder als einen "winzigen Bruchteil der Muslime". Doch gilt die Warnung Yücels in der Welt: "Faschistische Killer entstehen in einem geistig-politischen Umfeld, das Mord und Terror zwar ehrlich verurteilt, aber grundlegende Ansichten und Gefühlslagen mit den Mördern teilt."
Deshalb stehen Frankreich und wohl auch dem gesamten Westen gefährliche Zeiten bevor. Man muss die Mörder des "Islamischen Staates" und der Al-Kaida nämlich nicht nur militärisch und polizeilich, sondern auch ideologisch und pädagogisch bekämpfen - eine Aufgabe, die Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern könnte. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 13.1.2015)