Die Einschätzungen der möglichen nächsten Regierungspartei in Griechenland, Syriza, und ihres Chefs Alexis Tsipras haben für einigen Wirbel gesorgt. Hier die Überheblichkeit der vermeintlichen europäischen Krisenmanager, die tönen, es gebe keine Alternative zur aktuellen Politik. Punkt. "Sicherheit", "Stabilität", "Ordnung". Dort Stimmen, die zu Besonnenheit mahnen und etwa die Unwahrheiten zurückweisen, Syriza wolle aus dem Euro austreten.

Das zeigt: Der Wahlkampf in Griechenland sowie der Urnengang selbst haben eine europäische Dimension. Zum ersten Mal seit Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise wird die europäische Politik zu etwas gezwungen, was Politik eigentlich auszeichnet: nämlich in Alternativen zu denken, solche zu skizzieren, zu begründen und sich dann zu entscheiden. Das hat viel mit Macht und Interessen zu tun - genau das wird in diesen Tagen deutlich. Die Macht der Troika, Banken und Vermögensbesitzer wird möglicherweise infrage gestellt, sie müssen ihre Politik künftig stärker begründen. Die lähmende Alternativlosigkeit der neoliberalen Austeritätspolitik könnte aufgebrochen werden.

Unter Syriza wird Griechenland zum Experimentierfeld, um anders mit der Krise umzugehen. Staat und Wirtschaft werden erfolgreich restrukturiert, den Menschen werden stabile Arbeits- und Lebensverhältnisse ermöglicht, das Steuersystem wird reformiert, sodass die Vermögenden einen angemessenen Teil der Gemeinlasten tragen. Es gäbe effiziente öffentliche Investitionsprogramme - horribile dictu für neoliberales Denken -, mittels deren die humanitäre Krise in den Bereichen Ernährung und Wohnen, Gesundheit und Bildung überwunden wird.

Kriterium erfolgreicher Krisenpolitik wäre dann nicht, wenn die Finanzmärkte "beruhigt" sind und die Austeritätspolitik aufrechterhalten wird - so Joschka Fischer im Standard, für den ein Wahlsieg Syrizas zu einer politischen Krise Europas führen wird.

Das wird alles nicht einfach. Wir sollten uns die Strukturprobleme nicht schönreden, und es wird Stimmen in Europa geben, die für ein "kompromissloses Vorgehen" gegen eine neue griechische Regierung plädieren werden. Dennoch gibt es Handlungsspielraum. So könnte die regionale und lokale Ökonomie gestärkt werden. Nein, nicht Protektionismus, aber sinnvolle Wirtschaftspolitik, die sich nicht dem "Kampffeld Weltmarkt" unterwirft, sondern innerhalb der internationalen Arbeitsteilung darauf besteht, dass es eine eigenständige Industrie-, Struktur- und Arbeitsmarktpolitik gibt. Das könnte zur dringend notwendigen Aufbruchstimmung in Griechenland führen.

Europa wird zu einem für die Menschen überall positiv erlebbaren Projekt. Ein erster Schritt wären Neuverhandlungen der Schulden auf Augenhöhe, um der neuen griechischen Regierung Spielraum zu geben. Die proeuropäische Partei Syriza könnte zum Katalysator eines ganz anderen Auswegs aus der Krise in Griechenland und anderswo werden.

Es könnte endlich zu einer europäischen Schuldenkonferenz kommen. Viele erkennen an, dass Griechenland die Schulden nicht zurückbezahlen kann; es sei denn um den Preis dauerhafter Abhängigkeit. Verhandlungen sollten neben einer europäischen Gesamtlösung um einen Teilschuldenerlass für Athen gehen und, für die restlichen Kredite, um der Wirtschaftsleistung angemessene Rückzahlungen. Das wäre ein starkes politisches Signal an Menschen und Märkte, dass nun ernsthaft und solidarisch an geeigneten Krisenstrategien gearbeitet wird. Es würde transparent gemacht, wer eigentlich derzeit an der Krise besonders verdient.

Es gibt viel zu verteilen, in Griechenland und anderswo. Das Buch von Thomas Piketty über die historische Entwicklung der Vermögen hat eine breite Diskussion angestoßen. Eine erfolgreiche Entwicklung in Griechenland würde den rechten antieuropäischen und nationalistischen Kräften politischen Wind aus den Segeln nehmen.

Was wären die Konturen eines gerechten, demokratischen und ökologischen Wohlstandsmodells in Europa? In Kommentaren hört man nur die blasse Formel vom notwendigen "Wachstum". Doch was bedeutet das konkret? Was für Arbeitsplätze entstehen oder werden erhalten - solche in der Rüstungsindustrie oder in nachhaltiger industrieller Produktion? Arbeitsplätze für schlecht bezahlte Tagelöhner in der industrialisierten Landwirtschaft oder in der ökologisch ausgerichteten Produktion von Lebensmitteln? Wer entscheidet über konkrete Investitionen, die zu Wachstum führen sollen: Hedgefonds, verantwortliche Unternehmer oder gar wirtschaftsdemokratische Verfahren? Das sind Fragen, die Syriza beantworten will - und die wir in Europa insgesamt diskutieren sollten.

Was können relevante Akteure gerade in Österreich - etwa progressive Politiker, Unternehmer und Gewerkschaften - dazu beitragen, dass die Chance auf einen Neubeginn in Europa nicht verstreicht? Auch diesbezüglich hat der Wahlkampf in Griechenland europäischen Charakter. (Ulrich Brand, DER STANDARD, 12.1.2015)