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Wladimir Putin am russischen "Tag des Sieges" im vergangenen Mai auf der Krim: sicherheitspolitische Erwägungen, mythologisch begründet.

Foto: AP/Sekretarjew

Russlands Griff nach der Krim und der Sezessionskrieg in der Ostukraine haben Europa in eine Art Schockstarre versetzt. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat ein Staat mit militärischen Mitteln seine Grenzen zuungunsten eines Nachbarn verschoben. Gerade in Osteuropa wurden alte Ängste vor einem expansiven russischen Imperium wach.

Die Ukraine-Krise hat die tiefe Entfremdung zwischen Europa und Russland gezeigt. Doch der rücksichtslose Eroberer, als welcher Wladimir Putin dabei manchmal vereinfacht dargestellt wird, ist er nicht. Die Handlungen des Kremls werden nicht von territorialen Gelüsten, sondern von Angst diktiert.

In Moskau herrscht die tiefe Überzeugung, dass alle Ereignisse in Russland, der GUS und Osteuropa von den USA gesteuert sind, um Russland zu schwächen und aufzuspalten. Als wichtigste Indizien sieht Russland hierbei die Erweiterung der Nato nach Osten und die Pläne zum Aufbau eines US-Raketenschirms in Europa. Aber auch die Protestbewegung 2012 im eigenen Land hat der Kreml so interpretiert.

Zur Angst gesellen sich Enttäuschung und verletztes Ehrgefühl, nachdem der Versuch einer Annäherung aus Moskaus Sicht nicht zu gleichberechtigten Beziehungen führte. "Nachdem er, wie es ihm schien, im Kalten Krieg gesiegt hatte, betrieb der Westen pharisäisch die Politik eines Zurückwerfens Russlands", vergleichbar der Versailler Politik gegenüber Deutschland nach 1918, nur "in Samthandschuhen", erklärte der russische Politologe Sergej Karaganow die allgemeine politische Stimmung in Russland.

Ukraine als Schlüssel

Vor dem Hintergrund rief der Sturz des moskautreuen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch im Kreml Panik hervor: "Wenn die Gefahr eines ukrainischen Nato-Beitritts nicht bestanden hätte (und sie wäre fast schon 2007 aufgenommen worden), hätte Russland wohl nicht so scharf reagiert ... 2000 Kilometer Grenzlinie zu einem fremden Militärblock ist eine absolut unannehmbare Situation, Anlass für einen großen Krieg", sagte Karaganow.

Die Übernahme der Krim erfolgte in erster Linie aus sicherheitspolitischen Erwägungen, auch wenn Putin sie mythologisch mit der Einigung der "russischen Welt" begründete. Der Konflikt in der Ostukraine wird am Gären gehalten, weil Moskau darauf setzt, dass die Nato kein Land mit territorialen Streitigkeiten aufnimmt.

Der Begriff "russische Welt" dient auch nicht dazu, Ansprüche auf fremde Territorien zu formulieren, sondern Einfluss auf Pufferstaaten zu begründen, die nach Moskaus Vorstellung zwischen Russland und dem Westen liegen sollen. Der Kreml betont dabei kulturelle Gemeinsamkeiten. Ideologisch soll die russische Welt somit als Modell der Abschottung gegenüber dem Allgemeinheitsanspruch moderner westlicher Werte fungieren. (André Ballin aus Moskau, DER STANDARD, 12.1.2015)