Die Titelpartie der Alaide in Vincenzo Bellinis Oper "La Straniera" hat viele Geheimnisse und kann vielschichtig gelesen werden. Im Theater an der Wien wird sie alternierend von Editá Gruberová (li. mit Dario Schmunck als Arturo) und Marlis Petersen gesungen.

Foto: Monika Rittershaus

Christof Loy inszeniert Vincenzo Bellinis Oper "La Straniera".

Foto: Monika Rittershaus

STANDARD: Welche Erfahrungen bietet die Kunstform Oper, die man woanders nicht machen kann?

Christof Loy: Ich denke, dass die Autoren in der Oper generell immer versucht haben, Extremzustände spürbar zu machen, in die wir uns alle hineinversetzen können. Obwohl Probleme sehr zugespitzt behandelt werden, betreffen sie uns ganz unmittelbar. Durch den Gesang entsteht eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann. Dadurch kann unser emotionales Bewusstsein erweitert werden, das wir sonst im alltäglichen gesellschaftlichen Umgang nicht zulassen können. Diese Erfahrung mit sich selber ermöglicht ein anderes Verständnis für den Mitmenschen. Das ist der moralische Aspekt der Oper, der für mich ganz wichtig ist.

STANDARD: Heißt das, dass Oper auch moralisieren darf - so wie in der Aufklärung? Oder würde man sich damit heute, nach allen Desillusionierungen, denen wir ausgesetzt waren und sind, komplett lächerlich machen?

Loy: Mir ist es tatsächlich ganz wichtig, Oper und Theater als so etwas wie eine moralische Anstalt zu betrachten. Natürlich ist das, was Kunst vermittelt, nicht nur dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen und passt sich natürlich auch an, weil sich andere Fragen stellen. Ich finde es auch hochinteressant, welche Renaissancen und Vorlieben es auf den Spielplänen gibt. Derzeit scheint es mir nach der Wiederentdeckung und Neubefragung der Barockoper eine starke Tendenz zur großen Epoche der romantischen Oper zu geben, zur italienischen Belcanto-Oper und zum frühen Giuseppe Verdi - sogar bei Regisseurinnen und Regisseuren, die um diese Werke bisher eher einen Bogen gemacht haben.

STANDARD: Die romantischen Strömungen haben ja auch neue Zugänge zum Nichtrationalen gesucht. Warum ist das aktuell?

Loy: Ich glaube, dass es etwas mit unserer gegenwärtigen Welt zu tun hat, die immer virtueller und immer weniger physisch greifbar wird. Was man auf einem zweidimensionalen Display zu sehen bekommt, ist ja nur schwer zu fassen. Deswegen ist Sinnlichkeit heute ein großes Thema geworden, aber auch Individualität. In der virtuellen Welt ist alles tendenziell austauschbar und nicht individuell. Die Epoche der Romantik in Europa war ja nach der teils dogmatischen Aufklärung ein großer Appell, sich selbst daraufhin zu überprüfen, was an Emotionen weggeschoben wurde. Oper ist das Medium, in dem Emotion bis zur Extremform von Raserei und Wahnsinn spürbar werden kann. Die vielen Belcanto-Opern, in denen die zentralen Frauenfiguren wahnsinnig werden, sind aber nicht nur Monodramen, sondern man sieht auch den gesamten gesellschaftlichen Kontext. Das ist gerade das Spannende, zwischen gesellschaftlicher Analyse und den psychischen Extremen der Protagonisten Rechnung zu tragen.

STANDARD: Welche Aufgabe hat für Sie im mehrschichtigen Kunstwerk Oper die Regie beim Aufzeigen dieser Extremsituationen?

Loy: Meine große Aufgabe ist, ein Ensemble sensibel zu machen für den Stoff an sich und dafür, was ich darin erspüre, sodass man sich ihm von ähnlichen Betrachtungspunkten nähert. Es braucht ein großes Vertrauen der Darsteller untereinander im Spiel, um alles an Verletzlichkeit und Aggression herzustellen, ohne dass die Sänger das mit einer kollegialen Ebene vermischen. Meiner Erfahrung nach ist es für Menschen, die sich mögen, einfacher, eine Szene zu spielen, in der sie sich hassen, als wenn es Spannungen gibt. Dann ist es ganz schwer.

STANDARD: Suchen Sie, wenn Sie sich einem Werk nähern, jeweils einen bestimmten Schlüssel oder ein Modell, das mit dem Stück in Beziehung gesetzt wird? Das Schlagwort dazu wäre "Konzept" ...

Loy: Ich finde "Modell" einen ganz guten Begriff. Wenn ich mich mit einem Stück beschäftige, gibt es immer ein paar Situationen, an die ich besonders andocke - unabhängig davon, dass es natürlich Schlüsselmomente gibt, die ohnehin zentral sind und die man auf alle Fälle transparent machen muss. Das Modell, das ich darüberlege, ist wie eine Folie, um das Stück besser wahrnehmbar zu machen. Das Stück ist demgegenüber wie ein Grundriss, den ich zunächst einmal lesen muss. Manchmal lege ich dann ein Labyrinth darüber, durch das man in bestimmte Zimmer in diesem Gebäude findet.

STANDARD: Gibt es dafür jeweils mehrere Optionen? Wie ist es beispielsweise, wenn Sie jetzt Bellinis "La Straniera" in zwei Versionen mit unterschiedlicher Besetzung der zentralen Rollen und teilweise konträren darstellerischen Eigenschaften zeigen?

Loy: Diese Konstellation in Wien war für mich nur möglich, weil ich das Stück bereits in Zürich mit Edita Gruberová und dann in Essen mit Marlis Petersen erarbeitet habe. In der normalen Probenzeit von sechs Wochen könnte ich das nie machen. Das Interessante für mich ist, dass die Figur der Alaide sowohl eine jüngere Frau sein kann als eben auch eine Frau, die schon sehr viel erlebt hat und die plötzlich wieder in ein Leben zurückgerissen wird, das sie schon für abgeschlossen gehalten hat. Die Rolle hat so viele Geheimnisse, dass sie sehr verschieden gelesen werden kann. Auf die emotionale Entwicklung, die sie im Lauf des Stückes macht, reagieren die beiden Sängerinnen mit ganz unterschiedlichen Mitteln. Ich denke, es sind tatsächlich zwei verschiedene Versionen geworden - wie ein Diptychon. Eigentlich muss man beide in einem komplementären Verhältnis zueinander sehen. (Daniel Ender, DER STANDARD, 10./11.1.2015)