Viktor Martinowitsch: "Diejenigen, die in Weißrussland bleiben, sind politisch nicht aktiv. Diejenigen, die das Land verlassen, sind hoffnungslos, pessimistisch und erdrückt von der schwierigen Situation."

Foto: Alina Krushynskaya

Viktor Martinowitsch gehört zu den bekanntesten jungen Schriftstellern Weißrusslands, des osteuropäischen Landes, das seit 1994 von dem autokratischen Präsidenten Aleksandr Lukaschenko regiert wird. Gerade hat der 36-Jährige seinen vierten Roman veröffentlicht. Von September bis Ende des vergangenen Jahres lebte er in Wien, als Stipendiat des Institute for Human Sciences. Im Herbst ist Martinowitschs Debütroman Paranoia im Verlag Voland & Quist auf Deutsch erschienen.

STANDARD: Viktor Martinowitsch, Sie haben von September bis jetzt in Wien gelebt. Wie ging es Ihnen hier?

Martinowitsch: Ich muss leider sagen, dass mein erster Eindruck von Wien recht negativ war. All diese Paläste, die sich gegenseitig in ihrer Großartigkeit zu überbieten versuchen. All dieses Barocke, Wolfgang Amadeus Mozart, der einem überall als Süßigkeit begegnet, und schließlich die Albertina, in der Marc Chagall unter "Russische Künstler" geführt wird. Mittlerweile habe ich Wien aber für mich entdeckt, und ich habe mich in diese Stadt - so sagt man wohl - verliebt. Ich wohnte im 20. Bezirk, der sehr multikulturell ist und wo es sehr viele Jugendstilgebäude gibt. Und diese herrliche U-Bahn-Linie, die von Elfen gebaut sein könnte.

STANDARD: Ist Ihnen auch der Wiener Schmäh begegnet?

Martinowitsch: Nicht wirklich. Dafür reichen meine Sprachkenntnisse nicht. Aber ich habe viel von dieser legendären Ironie gehört. Und ich weiß, dass ich einen Verlängerten bestellen muss, wenn ich einen schwarzen Kaffee will. Ansonsten gibt es wohl eine Portion Schmäh.

STANDARD: Womit haben Sie sich am Institute for Human Sciences beschäftigt?

Martinowitsch: Ich schreibe an einem Buch, das der Albertina helfen wird, Chagalls Bilder künftig nicht mehr in der Kategorie "Russische Künstler" zu führen. Chagall wurde in meiner Heimat Weißrussland geboren, die damals zur Sowjetunion gehörte. In Witebsk wurde er als Unterstützer der Oktoberrevolution zum Kommandanten für die schönen Künste ernannt. Den Posten hatte er zwischen 1918 und 1922 inne, für Chagall eine tragische Zeit, die sehr unbekannt ist. Denn zu jener Zeit wurde er von seinen Freunden und Schülern verraten. Seine Arbeit brachte keinen Erfolg in einer provinziellen Stadt, die nicht bereit war, avantgardistische Experimente zu würdigen. Ich habe mich mit diesem Thema bereits für meine kunsthistorische Doktorarbeit beschäftigt.

STANDARD: Gerade ist Ihr Debütroman "Paranoia" in deutscher Sprache erschienen. Es ist eine Liebesgeschichte, die in einem osteuropäischen Polizeistaat spielt. Ist eine Beziehung in einem System, das via Angst und Paranoia regiert, überhaupt möglich?

Martinowitsch: Unter schwierigen Bedingungen haben Menschen auch die Chance, besonders gute Menschen zu werden und besonders intensiv zu leben und zu lieben. Gefühle wie Freundschaft und Liebe sind universell. Wir alle haben dasselbe Herz und erleben ähnliche Emotionen. Wir weinen und lachen, unabhängig davon, aus welchem Land wir kommen. Wenn es um romantische Gefühle geht: Je geringer die Chancen sind, glücklich zu werden, umso dichter oder ausgeprägter werden die Versuche sein, Zweisamkeit zu erzeugen. Man erinnere sich an Romeo und Julia. Oder an die Geschichte zwischen Hanna Arendt und Heidegger. Ich will eine universelle, menschliche Geschichte erzählen und keinen politischen Thriller.

STANDARD: Ihr Roman spielt aber an einem Ort, der an Ihre Heimat erinnert, wo es ebenfalls eine Autokratie gibt.

Martinowitsch: Ja, das stimmt schon. Aber mir geht es nicht um Weißrussland und seine politischen Probleme. Mir geht es um Fiktion, mittels der ich versuche, etwas Allgemeingültiges zu erzählen. Außerdem nervt es mich, dass dieses Branding von "der letzten Diktatur Europas" alles überdeckt, was aus meinem Land kommt. Wir haben eine junge spannende Literatur, die das Recht hat, wegen ihrer Qualitäten wahrgenommen zu werden. Die Reduzierung auf das Politische hilft niemandem in Weißrussland. In diesem Jahr sind vier Bücher aus Weißrussland auf Deutsch erschienen. Ich hoffe sehr, dass man uns auch künftig noch stärker wahrnimmt - auch abseits des Politischen.

STANDARD: Aber die Realität des Regimes hat Sie 2009 eingeholt, als "Paranoia" veröffentlicht wurde. Warum wurde Ihr Roman verboten?

Martinowitsch: Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, warum man den Roman verboten hat. Es wurde mir nie erklärt. Das ist der größte Unterschied zwischen dem heutigen System und zwischen der Sowjetunion unter Stalin, die kommuniziert hat, wenn sie Bücher und Autoren auf den Index gesetzt hat - wie es etwa mit Josef Brodsky passiert ist, der zudem deportiert wurde. Heute gibt es ganz andere Formen der kulturellen Zensur. Bei uns gibt es einige sehr bekannte Musiker, die nicht mehr auftreten dürfen - ohne dass ihnen dieses Verbot erklärt wird. Dasselbe passierte mit meinem Buch Paranoia. Es verschwand kurz nach Erscheinen aus den Regalen der staatlichen Buchhandlungen. Wurde es verboten, weil es die subtile Angst, mit der das System arbeitet, mittels einer Geschichte reflektiert? Oder wurde es verboten, weil ich die Geschichte teilweise mithilfe von komischen Abhörprotokollen der Geheimpolizei wiedergebe? Oder dafür, dass es die Natur der Beziehungen zwischen der Regierung, die die Menschen unterdrückt, und den Menschen, die in Stille und Lethargie verharren, aufgreift? Ich weiß es wirklich nicht. Ich kann es wirklich nur vermuten. Und ein Leben, das auf Vermutungen fußt, ist die reinste Form der Paranoia.

STANDARD: Und wie schafft man es selbst, dann nicht in eine Paranoia zu verfallen?

Martinowitsch: Das Beste ist, die Paranoia jeden Tag zu bekämpfen - mit Liebe und Leidenschaft, indem man Zeit mit Familie und Freunden verbringt, indem man gute Bücher liest. Vor allem sollte man den Momenten, in denen der Staat versucht, Paranoia zu stiften, keine verdammte Aufmerksamkeit schenken. Paranoia ist eine sehr individuelle Krankheit. Also hängt es von jedem selbst ab, wie er die Krankheit am besten bekämpft.

STANDARD: Bis auf das Buchverbot - haben Sie als Autor bereits andere negative Erfahrungen mit dem Regime gemacht?

Martinowitsch: Erst vor kurzem, Ende Oktober. Nach einer Lesereise in Deutschland war ich in Hrodna, einer Stadt im Westen Weißrusslands, wo ich meinen neuen Roman Mova vorstellen wollte. Die Veranstaltung fand bei einer kleinen unierten Gemeinde statt. Plötzlich platzte die Miliz in die Lesung und erklärte sie für beendet - mit der Begründung, dass ich eine "illegale Massenveranstaltung" organisiert hätte. Im schlimmsten Fall bekommt man dafür 15 Tage Gefängnis. Die Gemeinde kann ebenfalls eine Strafe bekommen. Wenn es ganz böse kommt, kann die Gemeinde sogar geschlossen werden.

STANDARD: Können Sie diese Intervention seitens der Staatsmacht verstehen?

Martinowitsch: Nein. Das ist alles absurd. Denn der Roman erzählt eine Gesellschaftsfantasie, es ist Science-Fiction. Es hat nichts mit der aktuellen Gesellschaft in Weißrussland zu tun. Ich bin sehr müde, und ich bin verängstigt aufgrund dieser ganzen Dummheit der lokalen Kräfte. Verstehen kann man das alles nicht.

STANDARD: 2006 und 2010 haben viele junge Leute, auch Sie, in Minsk gegen das Regime in Weißrussland demonstriert. In beiden Fällen folgten Verhaftungen und Repressionen. Warum ist der Wille zum zivilen Ungehorsam bei jungen Leuten in Weißrussland so schwach ausgeprägt?

Martinowitsch: Sie wurden über die Jahre unter dem Präsidenten entpolitisiert. Sie interessieren sich nicht mehr für Politik. So funktioniert die Konsumgesellschaft in Systemen, die ohnehin kaum demokratische Wurzeln haben. Die Leute interessieren sich für trendige Klamotten und hippe Sachen. Für ihre Freiheitsrechte interessieren sie sich leider überhaupt nicht mehr.

STANDARD: Und die jungen Leute, die bereit sind, etwas zu riskieren - verlassen sie das Land in Richtung Westen?

Martinowitsch: Ja. So ist es. Leider.

STANDARD: Und weil vor allem die Zurückgebliebenen nicht unbedingt diejenigen sind, die bereit sind, ein Risiko für einen Wandel einzugehen, wird das autokratische Regime immer stärker zementiert. Sehen Sie einen Ausweg aus diesem Dilemma?

Martinowitsch: Nein. Ich kann wirklich kein Ende dieses Teufelskreises sehen. Diejenigen, die in Weißrussland bleiben, sind politisch nicht aktiv. Diejenigen, die das Land verlassen, sind hoffnungslos, pessimistisch, erdrückt von der schwierigen Situation. Sie können sich vorstellen, wie komisch es ist, ein politischer Flüchtling aus einem Land zu sein, von dem noch nie jemand gehört hat.

STANDARD: Das klingt sehr pessimistisch.

Martinowitsch: Ich kann für die nahe Zukunft beim besten Willen keine Veränderung sehen. Wir sind nicht die Ukraine. Und die Situation dort hat unsere Autoritäten und auch die Bevölkerung verschreckt und verängstigt. 2015 wird Lukaschenko in aller Stille wiedergewählt werden. Er wird dann sicherlich bis 2020 regieren. Zehn Millionen Menschen werden so weitermachen wie bisher. Und die einzige Hoffnung, die wir haben, ist, dass sich nach so etwas wie persönlichem Glück suchen lässt - nur nicht in der Politik. Also werden wir uns weiterhin verlieben, wir werden lächeln oder weinen - egal, was sie im Fernsehen sagen. (Ingo Petz, Album, DER STANDARD, 10./11.2.2015)