Briten in Angst vor der Provokation

Die britischen Sicherheitsbehörden warnen seit Monaten vor einem Anschlag islamistischer Fanatiker. Im vergangenen Sommer wurde deshalb die offizielle Terrorwarnung auf die zweithöchste Stufe gesetzt. Demnach gilt ein Anschlag auf der Insel als "höchst wahrscheinlich".

Großbritannien ist spätestens seit dem 7. Juli 2005 an den Gedanken gewöhnt, dass religiös motivierte Einheimische nicht vor Gewalttaten zurückschrecken. Damals rissen vier Selbstmord-Attentäter in London 52 U-Bahn- und Buspassagiere in den Tod. Weitere - wenngleich kleinere - Anschläge folgten, etwa 2013 der Mord am Soldaten Lee Rigby im Londoner Stadtteil Woolwich.

Dass die Angst vor dem Terror zur Selbstzensur führt, demonstrierten die Medien auf der Insel einmütig: Keine einzige der großen Londoner Zeitungen nahm die "Charlie Hebdo"-Karikaturen auf die Titelseite. Das Risiko sei zu hoch, teilte der Chefredakteur des "Independent", Amol Rajan, mit. Tatsächlich warnte der bekannte Hassprediger Anjem Choudary in der "Times" unverblümt vor Konsequenzen für angebliche Beleidigungen des Islam. Das Einknicken, so der einflussreiche Kolumnist David Aaronovitch, habe Tradition. Auch als es 2006 um die kruden Mohammed-Karikaturen in "Jyllands Posten" ging, bildeten britische Presse und Politik eine fast beängstigende Einheitsfront in Beschwichtigung. (Sebastian Borger aus London, DER STANDARD, 9.1.2015)

Empörung auch in der islamischen Welt

Der blutige Überfall auf die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" hat in der islamischen Welt eine Welle der Empörung ausgelöst. Nachrichtenkanäle berichteten stundenlang live. Schnell war auch der Hintergrund gefunden, indem, etwa auf einer ägyptischen Website, "Charlie Hebdo" als "Zeitschrift, die den Propheten beleidigte", charakterisiert wurde.

Die Arabische Liga und die Kairoer Universität Al-Azhar, die wichtigste Autorität des sunnitischen Islam, aber auch das König-Abdullah-Zentrum (KAICIID) in Wien verurteilten die Tat. Die einflussreiche Vereinigung der islamischen Gelehrten in Doha nannte den Angriff eine Sünde.

Zu Wort meldeten sich auch die Staatschefs aller wichtigen Länder der Region. Ägyptens Präsident Abdelfattah al-Sisi sagte Frankreich Unterstützung im "Kampf gegen den Terror" zu. Unter diesem Banner laufen auch die repressiven Maßnahmen seiner Regierung gegen die Muslimbrüder.

In den meisten arabischen Zeitungskommentaren war die Gewichtung anders als in europäischen. Im Zentrum stand der Terror, der mit dem Islam nichts zu tun habe, und weniger der Angriff auf Demokratie und Meinungsfreiheit. Im Internet tauchte unter der schwarzen Al-Kaida-Fahne kurz auch eine Stimme "Islamische Wahrheit" auf, die die Tat euphorisch lobte. (Astrid Frefel aus Kairo, DER STANDARD, 9.1.2015)

Merkel warnt vor Islamdebatte

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat nach dem Anschlag in Paris vor einer unsachlichen Debatte über den Islam gewarnt. "Wir haben mit der übergroßen Mehrheit der Muslime ein sehr gutes Verhältnis. Alle haben sich hier auch klar geäußert zu terroristischen Angriffen", sagte sie am Donnerstag.

Da sich jedoch "leider" auch in Deutschland vereinzelt Muslime dem Jihad angeschlossen hätten, müssten die Sicherheitsmaßnahmen aufrecht bleiben. Anschläge wie in Paris, London und Madrid hat es in Deutschland bisher nicht gegeben. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) erklärte, dass für Deutschland auch derzeit keine gesteigerte Anschlagsgefahr bestehe: "Die Lage ist ernst, und es gibt Grund zur Vorsorge, aber nicht zur Panik." Bis Samstag sind in Deutschland Flaggen auf Halbmast.

Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) will künftig enger mit der islamfeindlichen deutschen Bewegung Pegida zusammenarbeiten. Bei einem ersten Treffen haben Spitzenvertreter "inhaltliche Schnittmengen" festgestellt. Pegida demonstriert am Montag wieder.

Schon am Freitag soll in deutschen Moscheen in Predigten für die Pressefreiheit geworben werden. Außerdem planen muslimische und säkulare Migrantenverbände eine große gemeinsame Kundgebung gegen Terror und für Freiheit. (Birgit Baumann aus Berlin, DER STANDARD, 9.1.2015)

Bosnische Reaktion: "Je suis Ahmed"

In Bosnien-Herzegowina mit seiner relativen Mehrheit an Muslimen drückten am Donnerstag etwa 50 Personen vor der französischen Botschaft in Sarajevo ihre Solidarität aus. Manche, wie der Journalist Eldin Hadzovic, sind enttäuscht über die geringe Teilnahme und entsetzt über Postings, die den Terror relativieren oder "unmögliche Vergleiche ziehen". Tatsächlich werden die Morde in Paris von manchen mit der Gewalt in Nahost, den Kriegen in Syrien und dem Irak, aber auch in Bosnien-Herzegowina in Verbindung gebracht. Hadzovic findet es auch schmerzhaft, dass er als Atheist von Religiösen als "Rassist oder Rechtsradikaler" beschimpft wird, wenn er Provokantes zu Mohammed veröffentlicht.

In Bosnien-Herzegowina, wo im Krieg von 1992 bis 1995 Muslime massenhaft vertrieben und ermordet wurden, wird der Anschlag durch einen besonderen Filter gesehen. Sudbin Music, ein Überlebender der ethnischen Säuberungen, befürchtet ein Ansteigen der Islamophobie. Er solidarisiert sich mit dem in Paris ermordeten Polizisten Ahmed Merabet und postet: "Je suis Ahmed." "Die erschießen ja auch Muslime", sagt er. Der Chef der Islamischen Glaubensgemeinschaft, Reis-ul-Ulema Husein Kavazovic, schreibt, er hoffe, dass "die gesamte freiheitsliebende Welt die Falle der Stigmatisierung von unschuldigen Menschen und Spaltungen vermeiden wird". (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, DER STANDARD, 9.1.2015)