Steckbrief von Chérif und Said Kouachi. Die Brüder stammen aus einer algerischen Einwandererfamilie. Sie waren früher nicht religiös, heißt es, sondern haben sich direkt dem radikalen Islam zugewandt.

Wenn die Täter von Paris tatsächlich identisch mit den von der Polizei gesuchten Brüdern sind, dann entspricht ihr Profil stark dem, was der französische Islamwissenschafter und Soziologe Olivier Roy seit Jahren als Typ des europäischen Jihadisten beschreibt. Dieser terroristische Islamismus leitet sich eben nicht aus einer islamischen Tradition her, sondern, so schreibt Roy schon 2006 in der Zeit, es handle sich "um eine Neubestimmung der Religion außerhalb der Kultur". Er ist eine Erscheinung der Moderne und ist nicht einfach ein Import aus der islamischen Welt - verstärkt durch die derzeitigen Konflikte dort -, sondern ein Zeichen einer Kulturkrise, eines Kulturverlustes des Islam im Westen.

Es ist typisch, dass sich diese Form des Radikalismus vor allem in der zweiten Generation europäischer Muslime entwickelt. Roy nennt ihn "eine pathologische Folge der Verwestlichung des Islam". Religion und Kultur sind entkoppelt. Nur absolut gestellte Normen bleiben übrig.

Keine islamische Familie

Das Brüderpaar mit algerischen Wurzeln wurde nicht in einer gefestigten islamischen Familie groß: Wie so viele der jungen Europäer und Europäerinnen, die in den Jihad des "Islamischen Staats" ziehen, haben sie sich nicht von einem praktizierten "normalen" Islam dem Jihadismus zugewandt, sondern waren zuvor auf ganz anderen Wegen.

Sie waren nicht nur materiell, sondern auch sozusagen spirituell bedürftig. Sehr oft wird geschildert, dass sich solche junge Leute zuerst von der "Sünde" abwenden mussten. Angehörige und Freunde von diesen Jugendlichen beschreiben diesen Weg oft als die Angelegenheit von ein paar Wochen. Mit Religionserwerb hat das nichts zu tun.

Diese Leute sind deshalb in der Regel auch völlig unerreichbar für Vertreter des moderaten Islam - weshalb es zwar wohlfeil, aber in der Regel sinnlos ist, die Schuld bei den offiziellen islamischen Gemeinden zu suchen. Es geht um einen "persönlichen Weg" der Individuen zum Glauben, emotional und fernab von Wissen und Reflexion. Sie suchen - und finden jihadistische Propagandisten.

Diese Art von Abspaltung von Kultur und Religion gibt es natürlich auch in anderen Religionen etwa im Christentum bei manchen evangelikalen Bewegungen, wo der Bruch mit der traditionellen Kirche auch Voraussetzung ist. Nur fällt dort eben die starke politische Komponente weg.

Frühere "Angebote"

Genau sie macht den Salafismus und den Jihadismus aber wiederum interessant für viele, die früher andere "Angebote" wahrgenommen hätten. Das macht die große Nummer von Konvertiten in der Salafismus-Szene verständlicher. "Die radikalen Gruppen finden ihre Anhänger da, wo die extreme Linke einst ihre Anhänger rekrutierte", schreibt Roy. Die Revolte gegen die etablierte Ordnung - Stichwort Antiimperialismus - finde heute sehr oft im Namen des Islam statt, und das ist attraktiv für junge Leute.

Kulturverlust

Roy weist deshalb die Kategorisierung unter "Kampf der Kulturen" zurück. Die jungen Menschen wenden sich dem Salafismus zu, weil sie die Kultur der Eltern verloren haben. Ihr Salafismus ist damit auch eine Rebellion gegen die Eltern.

Die Verwestlichung des Islam und die Reaktionen darauf sind aber nicht nur im Westen zu beobachten, sondern auch in den islamisch geprägten Ländern. Der fundamentalistische Islam, der Salafismus, schüttet dabei quasi das Kind mit dem Bade aus: Er bekämpft nicht nur den schädlichen westlichen Einfluss, sondern auch die traditionellen lokalen Formen des Volksislam. Der Fundamentalismus, schreibt Roy, ist deshalb nicht als Aufbegehren des traditionellen Islam zu sehen, sondern vielmehr eine Folge seines Verschwindens. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 9.1.2015)