Unlängst wurde im Budapester Goethe-Institut die wunderbare Rolle Ungarns im Prozess der deutschen Wiedervereinigung gefeiert. Hier bekam der Eiserne Vorhang seinen ersten Riss, zahlreiche Bürger der DDR verließen ihre Gefangenschaft. "Danke, Ungarn!" war auf den Plakaten zu lesen, da tat es fast weh, an die heutige Situation zu denken, die sich kurz zusammenfassen ließe in der Parole: "Ungarn, nein danke!"

Verbiestertes Land

Kein Ruf in Europa wurde in den letzten fünfundzwanzig Jahren derart radikal ramponiert wie der ungarische. Wurde ich in den Achtziger- und Neunzigerjahren in Hamburg und Dresden noch beneidet um meinen aufregenden Wohnsitz Budapest, so schauen mich inzwischen selbst gute deutsche Freunde mitleidig an und fragen, wie ich in einem derartig verbiesterten und freiwillig immer undemokratischer werdenden Land denn überhaupt noch leben könne.

Schon vor dem Fall der Mauer 1989 galt Ungarn im kalt-rigiden Ostblock als eine liebenswerte Ausnahme, eine Insel der Seligen, weil die Leute hier unverschreckt ihre Meinung sagten, Witze machten über den Kommunismus, jedes Tabu mutig umtanzten, sich verwöhnten, wie und wo immer nur möglich. Diese Lebensfreude war ein später Sieg des sowjetisch niedergewalzten Volksaufstandes von 1956.

"Wer nicht gegen uns ist, ist für uns." Das war die vergleichsweise freundliche Herrschaftsmaxime des erstaunlich bescheidenen sozialistischen Staatsoberhauptes János Kádár. Die listige Bevölkerung machte daraus ein noch liberaleres Rezept: "Leben und leben lassen!" Für jedes Problem wurde eine Lösung improvisiert. Die Verhältnisse waren absolut nicht glücklich, aber es lag ein seltsamer Optimismus über dem grauen Alltag, alle suchten auf abenteuerliche Weise nach ihrem persönlichen Umweg zum Glück. Dafür wurde das Land international gefeiert. Der gute Ruf schien ewig und unzerstörbar.

Und heute? Offensichtlich sind die Zeichen gewachsenen Wohlstands, teure Autos dominieren die Straßen. Bedrückend aber sind auch die Zeichen akuter Not, viele Obdachlose und Bettler, kilometerlange Schlangen bei der kostenlosen Essensvergabe gerade jetzt zu Weihnachten. Etwa ein Drittel der Bevölkerung kämpft um seine bloße Existenz.

Statt der erhofften Selbstbestimmung kamen die Unzahl neuer Verpflichtungen, der Kampf um die früher sicheren Arbeitsplätze, zermürbende Kredite, die auch Wohlhabendere zu verängstigten Sklaven ihres eigenen Konsums werden ließen.

Es gibt kein gesichertes Bürgertum im Wohlstand, von dem so viele 1989 sehnsüchtig und ungeduldig geträumt hatten, denn das wollte jeder unbedingt sein: ein freier Bürger. Schnell wurde deutlich, dass die gewählten Politiker sich in der neuen Demokratie mehrheitlich nur selbst bereichert haben und es immer noch tun. So hat die Hälfte der Bevölkerung jede Hoffnung auf politischen Wandel völlig verloren und verweigert die Wahlen.

Der Rest wählt mehrheitlich provozierend national, um wütend sich selbst und aller Welt zu zeigen, dass das stolze Ungarn sich an keinerlei Kette legen lässt. Die Regierung stützt sich auf diese Wut, wird sie in Brüssel für Demokratieabbau und diktatorische Auswüchse getadelt, so punktet sie damit bei den Wütenden daheim. Auf Großplakaten fordert sie Respekt für Ungarn und hält damit die beleidigte Volksseele bei köchelnder Laune.

Ein absurdes Theater, weil die Regierung diesen Respekt systematisch verspielt. Geforderter Respekt ist ein Unding, so hilflos wie eingeforderte Liebe. Respekt und Liebe sind Geschenke und von Natur aus nicht erzwingbar. Geschieht dieser Kampf um Anerkennung dazu noch hysterisch, dann werden auch die letzten noch vorhandenen Reste von Respekt der Lächerlichkeit übergeben. Es wird vielleicht noch einmal 25 Jahre dauern, diesen katastrophalen Schaden erfolgreich zu therapieren. Also muss möglichst rasch damit begonnen werden, ich wäre gern dabei. (Wilhelm Droste, DER STANDARD, 8.1.2015)