Wien - Rock 'n' Roll ist ein alter Gaul. Wahlweise übergewichtig oder ausgemergelt, zahnlos und geschunden, Nagelpilz am Huf. Der ihm einst innewohnende umstürzlerische Geist wurde längst gebrochen, von seinem ärgsten Feind geschluckt, verdaut und ausgeschieden: der gesellschaftlichen Akzeptanz. Doch dann und wann erinnern einzelne Künstler oder Bands an die Initialzündung dieser Kultur. Zum Beispiel Lux Interior.
Der war Sänger der US-Band The Cramps und wurde 2009 leider frühzeitig von seiner Mission abberufen. Ihm war Rock 'n' Roll Auftrag und Lebensgefühl. Er deutete ihn alttestamentarisch als Ausdruck blanker Renitenz, und das Vehikel dieser Auflehnung, die Musik, als etwas, das die Elterngeneration in Verzweiflung und panisches Unverständnis treiben sollte. Alles andere wäre bloß Entertainment, schnöde Unterhaltung und als solche keiner Beachtung wert. Das klingt nicht nur wie ein Glaubensbekenntnis, Lux Interior hat danach ohne Rücksicht gelebt, wir vermissen ihn.
Ein anderer Vermisster, der Stifter dieser gottlosen Religion, wäre diese Woche 80 Jahre alt geworden: Elvis Presley. Der als König des Rock 'n' Roll ausgerufene Musiker kam am 8. Jänner 1935 in Tupelo, im US-Bundesstaat Mississippi, auf die Welt.
Mitte der 1950er, seine Familie war nach Memphis in Tennessee umgezogen, sollte er die Weltherrschaft an sich reißen. Zwar hat er den Rock 'n' Roll nicht erfunden, das ist ein alter Hut, doch hinschreiben muss man es.
Elvis Aaron Presley aber überschritt mit der Musik, die Künstler wie Howlin' Wolf, Junior Parker, Fats Domino, Little Richard, Ike Turner, Chuck Berry und andere Pioniere in Garagen, Ställen und Juke Joints des US-amerikanischen Südens nächtens spielten, die Grenzen zum Mainstream. Angereichert mit dem Soul des weißen Mannes, mit Country, der Musik von Hank Williams, Hank Snow und, und, und.
Sabber! Sabber! Hey!
Zehn Jahre nach dem großen Krieg wuchs ein starkes emanzipatorisches Verlangen einer sich formierenden Jugendkultur, die von Papis Kriegsgeschichten genug hatte und stattdessen dringend einen Soundtrack suchte, zu dem man in schicken den Mond oder den Mars anvisierenden Automobilen auf Brautschau gehen konnte. Sabber! Sabber! Hey!
Und nichts besitzt stärkere Anziehungskraft als das Verbotene. Elvis bot als bleicher Junge aus armen Verhältnissen einen Kompromiss in Richtung einer Kultur, die von einem jahrhundertelang gepflegten Rassismus bis dahin weitgehend ignoriert wurde. Doch plötzlich infiltrierte ein Lastwagenfahrer die Gesellschaft mit einer Musik, die als schwarz und als des Teufels galt.
Zwar sorgte jemand wie Fats Domino schon seit Jahren auf seinen Tourneen für größere und kleinere Riots in den Konzertsälen der USA, doch es bedurfte eines weißen Mannes, um Mutters Bügelbrett erbeben zu lassen, als der im Fernsehen plötzlich Bewegungen ausführte, für die anständige Leute das Licht ausmachten.
Ein paar Elvis-Singles auf seinem Label Sun Records reichten Sam Phillips, um einen archimedischen Punkt zu schaffen. Es war die Zeit der narrische Hinterwäldler, die Zeit von Jerry Lee Lewis, Roy Orbison, Charlie Feathers, dem kulleräugigen Johnny Cash, Carl Perkins oder Hintermännern wie Jack "Cowboy" Clement, der bei Sun oft an den Reglern saß, wenn vorne irgendein Verrückter versuchte, hormonelle Kurzschlüsse in zweiminütige Songs zu überführen. Ein paar wilde Jahre dauerte der Zirkus.
Es war jene Zeit des Rock 'n' Roll, die Lux Interior und The Cramps in Brand gesetzt hatten. Doch ausgerechnet der zuckende Fackelträger, Elvis selbst, führte den Rock 'n' Roll in die Niederungen seichter Unterhaltung für die Massen. Das Militär zog ihn 1958 ein. Als er 1960 wiederkehrte, ging seine Karriere gleichzeitig bergauf und bergab. Die nächsten sieben Jahre verbrachte er vorwiegend damit, in 31 Spielfilmen die Rolle des singenden Schönlings zu variieren. Gerade zwei Filme, Charro! und King Creole, ließe eine gerechte Filmkritik als akzeptabel durchgehen.
Als er Ende der 1960er-Jahre der Schmonzetten überdrüssig war, hatte sich die Welt längst weitergedreht. Zwar gelangen Elvis in neuer (Leder-)Kluft noch einige souveräne Alben, Anbindungen an aktuelle Trends untersagte entweder sein Manager Tom Parker - oder Elvis war selbst zu lasch und flog lieber zur Zerstreuung nach Las Vegas, anstatt sein Ohr seiner Nachbarschaft zu leihen, in der Soul-Labels gerade wieder neue aufregende Musik veröffentlichten. Lediglich From Elvis in Memphis und noch zwei, drei andere Alben dokumentieren da Realitätssinn und Berührungspunkte.
Tod - und Geburt des Mythos
Gemessen an seinen Veröffentlichungen ging es ab 1971 bergab, Eheprobleme, später die Scheidung, Frust und die Flucht in Drogen, Medikamente und eine Scheinwelt aus Jasagern und anderen falschen Freunden besorgten den Rest. 1977 starb der Mensch Elvis Presley 42-jährig - der Mythos ward geboren.
Kein anderer Popkünstler hat posthum mehr Geld für seine Erben verdient als Elvis. Es gibt dutzende Schriftstücke zum Thema, mit Ausnahme der beiden biografischen Bände von Peter Guralnick sind sie alle Makulatur, der Rest meist ein Witz.
Sein Antlitz wurde am Mars gesichtet, er tritt in Gestalt taiwanesischer Straßensänger auf, segnet in Las Vegas Bünde fürs Leben oder blamiert sich als wamperter Musical-Charakter in Fünfhaus. Kein Jubiläum bleibt ungenutzt, um der Verwertungskette Altes und Neues zuzuführen. 2009 wurde ein Büschel seiner Haare um 18.300 Dollar versteigert.
All das kann das Phänomen Elvis im Kern nicht beschädigen. Die Musik eines besessenen Autodidakten, der spielte und sang, was er liebte, und es so zum populärkulturellen Kanon erhob. Der Welt bescherte er den Rock 'n' Roll, sich den amerikanischen Traum inklusive dessen bitteres Ende. (Karl Fluch, DER STANDARD, 5.1.2015)