Szenen aus einem gefundenen Urlaubsfilm von 1938. Die Suche nach Überlebenden des Holocaust führte bisher zum Buch "Three Minutes in Poland".

Foto: US Holocaust Memorial Museum, Schenkung von Glenn Kurtz

Kinder im jüdischen Viertel. Im Bild ganz links: Maurice Chandler, der diesen Film im hohen Alter erstmals sehen konnte.

Foto: US Holocaust Memorial Museum, Schenkung von Glenn Kurtz

Glenn Kurtz wollte einen Roman über die besessene Suche nach Fakten aus der Nazizeit schreiben. Dann begann er selbst obsessiv Spuren zu suchen.

Franziska Liepe

Beresne in der Ukraine ist ein verschlafenes Städtchen mit etwa 12.500 Einwohnern. Der nächste Bahnhof liegt mehr als 15 Kilometer weit entfernt. Zwei Straßen führen durch die Stadt, die wirtschaftlich eher unbedeutend ist. In Beresnes Geschichte bleibt wahrscheinlich nur ein Tag im kollektiven Gedächtnis haften: Am 25. August 1942, die damals in Polen liegende Stadt war von der deutschen Wehrmacht längst annektiert, wurden 3400 hier lebende Juden von SS-Truppen und anderen Einheiten erschossen.

2009, also 67 Jahre nach diesem Massaker, wollte der US-amerikanische Schriftsteller Glenn Kurtz, dessen Wurzeln in ebendieser Region liegen, einen Roman schreiben. Der Plot: Eine Frau findet in Wien einen Film aus der Nazizeit und forscht nach zwei Brüdern, die in diesem Fundstück vorkommen und nach dem "Anschluss" das Land verließen . Kurtz kramte - wie durch eine plötzliche Eingebung getrieben - im Haus seiner Eltern in Florida nach einer Kiste mit Amateurfilmen, von der er wusste. Was er vorfand, war unter anderem ein ganz besonderer Streifen aus dem Jahr 1938. Der Kameramann war sein Großvater David Kurtz, der damals schon längst aus Polen in die USA emigriert war. Zu sehen sind Szenen einer Europa-Reise mit seiner Frau Liza und drei Freunden. Es war ein Urlaub, der sie in die Niederlande, nach Belgien, Frankreich, England und in ihre polnische Heimat führte: eine Reise in die eigene Geschichte.

Keine Sorgen beim Europa-Trip

Kurtz' Großeltern waren damals schon amerikanische Staatsbürger. Aber hatten sie keine Angst vor den Nazis, die in Deutschland schon seit 1933 und in Österreich seit 1938 an der Macht waren? Die lapidare Antwort: "Ich denke nicht." Der Schriftsteller meint, dass sie bestens informiert waren. "Mein Großvater las jeden Tag Zeitung", sagt er. Sie hätten sich dennoch keine ernsthaften Gedanken gemacht und kehrten auch völlig unbehelligt zurück.

Glenn Kurtz fand unter den Urlaubsszenen auch drei Minuten mit Straßenszenen aus einem jüdischen Viertel in Polen. Er dachte zunächst, es seien Szenen aus Beresne, der Heimatstadt seiner Großmutter. Sie hatte nie über die Judenverfolgung in ihrer polnischen Heimat gesprochen. Nur einmal, als ein Familienmitglied sie nach den Verwandten und Freunden fragte, sagte sie ziemlich schroff: "Sie sind alle weg!"

Auch die Reise nach Europa hatte sie nie erwähnt. Deswegen konnte sich Kurtz an die wahre Geschichte nur herantasten. Aber wie damit beginnen? In den besagten drei Minuten aus dem jüdischen Viertel sind vor allem Kinder zu sehen, die den Kameramann neugierig beobachten. Sie lachen, winken. Keine Spur noch vom Nationalsozialismus der kommenden Jahre. "Das sind Fragmente eines verschwundenen Lebens", sagt Glenn Kurtz.

Restaurierung im Museum

Der Schriftsteller übergab das Fundstück an das US Holocaust Memorial Museum in Washington, wo es restauriert wurde und fortan auf der Museumswebsite abrufbar war. Kurtz selbst begann, sich mit großer Leidenschaft in die Geschichte dieses Europatrips zu vertiefen. Eigentlich wollte er ja einen Roman über eine obsessive Suche nach Fakten schreiben. Nun war er selbst wie besessen am Recherchieren. War es wirklich Beresne oder doch eine andere Stadt? Gibt es Überlebende? Und könnte er mit ihnen Kontakt aufnehmen?

Kurtz: "Ich hatte den Wunsch, den Gesichtern des Films einen Namen zu geben. Sie sollten nicht nur ein Symbol sein." Und so fand er im Zuge der Recherchen Bilder aus Nasielsk in der Nähe von Warschau, die Gebäude zeigten, die auch im Urlaubsfilm des Großvaters zu sehen waren. Eigentlich logisch. David Kurtz stammte aus dieser Stadt, die unter dem Nationalsozialismus eine ähnliche Geschichte wie Beresne erlebte. Von den etwa 3000 Juden, die hier 1939 lebten, wurden 2900 getötet.

Der Großvater als Teenager

Ein Jahr nachdem das Holocaust Museum den Link zum Film auf seiner Website zur Verfügung gestellt hatte, meldete sich die Enkelin eines Überlebenden aus Nasielsk. Sie erkannte in den Straßenszenen ihren Großvater Maurice Chandler, damals ein Teenager, mittlerweile über 90. Kurtz, der schon nicht mehr daran glauben konnte, Überlebende zu finden, traf Chandler in Florida - und hörte dessen bewegte Geschichte: Als Bub hatte er bei der Bäuerin Helena Jagodzinska gearbeitet. 1940 flüchtete er gemeinsam mit vier Freunden aus dem Warschauer Ghetto. Die Bäuerin verschaffte ihm falsche Papiere und forderte ihn auf, sein Hab und Gut bei ihr zurückzulassen, um alle Spuren zu seinem jüdischen Leben zu verwischen.

Chandler tauchte beim Erzählen in die Erinnerungen und ging in dieser Zeitreise ganz auf. Er konnte sich an überraschend viele Details erinnern, erkannte Menschen und erzählte viele Geschichten. Kurtz setzte seine Recherchen fort - mit neuen Ideen und neuem Schwung. Er konnte schließlich acht Überlebende aus Nasielsk finden und interviewen - nicht alle sind im Film zu sehen, ihre berührende Geschichte liegt seit Ende November 2014 in Buchform vor: Three Minutes in Poland: Discovering a Lost World in a 1938 Family Film (Farrar, Straus & Giroux, 19,50 Euro).

Begegnung mit Überlebenden

Chandlers Geschichte fand schließlich ein Happy End: Die Tochter der Bäuerin sah den Film im polnischen Fernsehen und erkannte Chandler. Ihre Enkelin kontaktierte Kurtz. So kam der ehemalige Landwirtschaftsgehilfe wieder in den Besitz seiner einst zurückgelassenen Habseligkeiten.

Für Kurtz ist die Geschichte allerdings noch nicht zu Ende: "Ich hoffe, dass weitere Erinnerungsstücke auftauchen. Die Zeit drängt. Die wenigen Überlebenden sind sehr alt und werden nicht mehr lange leben." Nur durch die Begegnung mit ihnen hätten Gesichter Namen bekommen. "Ansonsten wäre der Film nur ein Film und hätte keine Geschichte." (Peter Illetschko, DER STANDARD, 3.1.2015)