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STANDARD: Am 1. Jänner 2015 begeht Österreich ein Jubiläum: 20 Jahre EU-Mitgliedschaft. Eine reine Gewinnrechnung?

Sebastian Kurz: Das war eine Entscheidung, die uns viele Chancen eröffnet hat. Ich gehöre einer Generation an, die die Möglichkeiten der EU als selbstverständlich wahrnimmt. Unsere geografische Lage und wirtschaftliche Ausrichtung haben natürlich dazu geführt, dass wir von dem Beitritt ganz besonders profitiert haben. Wir würden nicht dort stehen, wo wir heute stehen ohne diese 20 Jahre in der EU. Daher werden wir das Jubiläum auch ordentlich feiern – aber nicht mit dem Blick zurück, sondern nach vorn. Die EU ist ein halbfertiges Erfolgsprojekt mit der stetigen Notwendigkeit, sie weiterzuentwickeln.

STANDARD: Welche Reformideen könnte Österreich da einbringen?

Kurz: Es ist zweifelsohne für ein kleines Land von Vorteil, in dieser Gemeinschaft Teil eines größeren Ganzen zu sein und so international mehr Gewicht zu haben. Und die Möglichkeiten mitzugestalten, gilt es schlicht und ergreifend zu nutzen. Ganz entscheidend ist, dass die neue EU-Kommission eine sehr politische ist, die sich nicht hinter Bürokratie und Verträgen versteckt und auch nicht fernab von dem agiert, was die Menschen betrifft. Wir müssen auch daran arbeiten, dass die EU stärker in den großen Fragen wird – sich aber auch ein Stück weit weniger einmischt in Bereichen, die ganz gut auf der regionalen Ebene entschieden werden können.

Robert Newald

STANDARD: In welchen Bereichen muss die EU stärker werden?

Kurz: Wir brauchen eine EU, die unabhängiger ist vom Öl aus den Golfstaaten, vom Gas aus Russland und von Datenservern in den USA. Wir brauchen eine stärkere Außen- und Verteidigungspolitik innerhalb der EU. Und wir müssen auch alles tun, um als Standort attraktiv zu bleiben. Wir müssen insbesondere wirtschaftlich aufpassen, dass wir nicht bloß ein Kontinent mit viel Vergangenheit sind, sondern auch einer bleiben, der noch viel Zukunft vor sich hat.

STANDARD: Das Finden einer einheitlichen Linie scheint schwieriger denn je ...

Kurz: Wir sollten nicht den Fehler machen, nur nach den Schwächen der EU zu suchen. Wenn ich zurückblicke auf dieses Jahr, dann bin ich doch der Meinung, dass es gelungen ist, sowohl in der Ukraine-Krise als auch im Kampf gegen den IS-Terror als EU stets mit einer Stimme zu sprechen. Das ist eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass es 28 Länder sind, die ganz unterschiedliche Interessen und geschichtliche Prägungen haben. Ich wünsche mir, dass die EU noch mehr Gewicht bekommt. Die EU hat weit mehr Druckmittel, auch wirtschaftlich gesehen, als wir derzeit nutzen – Stichwort Türkei.

STANDARD: Die Türkei ist von ihrem einstigen Bestreben, in die EU zu gelangen, mittlerweile durch die autoritäre Politik von Präsident Erdogan ziemlich weit abgerückt. Wie soll die EU darauf reagieren?

Kurz: Wir sollten anerkennen, dass die Türkei insbesondere im wirtschaftlichen Bereich eine beeindruckende Entwicklung durchgemacht hat. Genauso müssen wir aber sehen, dass die Entwicklung der letzten Jahre – was die Medienfreiheit und die Menschenrechte allgemein betrifft – massiv negativ ist. Es braucht kein Schönreden, sondern eine klare Verurteilung dieser Entwicklung durch die Europäische Union. Das ist nach den letzten Verhaftungen von Journalisten auch geschehen. Dennoch gibt es nach wie vor unterschiedliche Stimmen in der EU: Manche wollen jetzt die Beitrittsverhandlungen um das Justizkapitel noch intensiver führen; andere – auch ich – sind der Meinung, dass es eine harte Reaktion braucht. Das bedeutet, keine neuen Kapitel zu eröffnen und die Beitrittsverhandlungen nicht vorantreiben. Die Türkei stellt sich seit Jahren mehr und mehr ins Abseits. Das kann von der EU nicht still und leise zur Kenntnis genommen werden.

STANDARD: Ein weiteres Land, dessen Regierung mitunter autoritäre Züge aufweist, ist Ungarn ...

Kurz: Österreich ist vor allem in den Bereichen Landwirtschaft und Banken von der ungarischen Politik betroffen. Wir nutzen alle Gesprächskanäle nach Ungarn, um ihnen klarzumachen, dass das Verhalten nicht nur für uns negativ ist, sondern ihnen selbst auf den Kopf fallen wird. Ungarn braucht Auslandsinvestitionen und ein funktionierendes Bankensystem. Wir nutzen auch alle rechtlichen Möglichkeiten, die uns die EU bietet, weil wir hier einfach nicht zuschauen können.

Robert Newald

STANDARD: Bundeskanzler Werner Faymann und Bundespräsident Heinz Fischer fordern neuerdings, man solle die Ukraine-Sanktionen nicht überstrapazieren. Wird da nicht ein mühsam gefundener Konsens torpediert?

Kurz: Definitiv nicht. Die Sanktionen sind ein flexibles politisches Druckmittel und kein Selbstzweck. Natürlich haben wir ein Interesse daran, dass sich das Verhältnis zu Russland positiv entwickelt und es eine friedliche Lösung in der Ukraine gibt. Russland hat das Völkerrecht massiv verletzt, es sind tausende Menschen in der Ukraine gestorben, wir haben rund eine Million Flüchtlinge. Die EU agiert politisch und versucht so, eine Verhaltensänderung Russlands herbeizuführen. Eigentlich müsste der Punkt schon erreicht sein, wo Wladimir Putin klar wird, dass der Preis, den er zahlt, wesentlich höher ist als der Nutzen, den er zu erreichen gedacht hat. Die russische Wirtschaft ist massiv eingebrochen. Der Rubel ist im Jahr 2014 um über 50 Prozent gefallen. Ich hoffe, dass Russland die Notwendigkeit verspürt einzulenken. Die Sanktionsschraube wird dann wieder zurückgedreht.

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STANDARD: Russland lenkt aber nicht ein ...

Kurz: Es gibt genügend Gründe für Russland, nach einer friedlichen Lösung zu suchen. Es ist eine Aufgabe der EU – selbst wenn die Schuldfrage eindeutig zu beantworten ist –, in Kontakt mit Russland zu bleiben, um über die Wurzeln des Konflikts zu sprechen: über die Frage, wie man mit der Eurasischen Union und der EU als zwei Blöcke, die sich gegenüberstehen, langfristig umgeht. Wir waren stets diejenigen, die wieder und wieder einen Anlauf genommen haben, um auf Russland zuzugehen. Das sollten wir auch im neuen Jahr fortsetzen. Russland ist Teil des Problems, deshalb muss es auch Teil der Lösung sein.

STANDARD: Reformbedarf gibt es auch am Balkan – erklärtermaßen eine Schwerpunktregion in Ihrer Agenda ...

Kurz: Wir unterstützen alle Länder des Westbalkans bei ihren Reformbemühungen. Aber natürlich fordern wir auch viel ein, daher gibt es auch Reibungspunkte. In Bosnien-Herzegowina wäre es notwendig, den Druck seitens der EU zu erhöhen, weil wir eine alles andere als positive Entwicklung erlebt haben. Es gibt aber auch Länder wie Serbien, wo viele Fortschritte zu sehen sind und diese daher zu Recht von der EU-Kommission positiv bewertet worden sind. Je mehr Perspektive es in der EU gibt, desto positiver entwickeln sich die Länder.

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STANDARD: Als Integrationsminister scheinen Sie sich im Zusammenhang mit Islamismus in Österreich beziehungsweise der Radikalisierung Jugendlicher eher zurückhaltend zu geben. Sehen Sie das Thema allein im Zuständigkeitsbereich der Innenministerin?

Kurz: Man muss klar unterscheiden zwischen jenen, die sich etwas zuschulden kommen haben lassen, und jenen, die dabei sind, verführt zu werden. Ich habe als Integrationsminister die Islamische Glaubensgemeinschaft sehr in die Pflicht genommen, und das mit Erfolg – denn zu Beginn hat sie die Meinung vertreten, ihr seien die Hände gebunden und sie könnte keinen Beitrag leisten. Mittlerweile ist klar, dass es auch ihre Pflicht ist, alles zu tun, damit nicht junge Menschen verführt werden. Es gibt auch eine gemeinsame Kampagne. Das Thema Kampf gegen Radikalisierung ist im Religionsunterricht, aber auch in den Moscheen in den Mittelpunkt gerückt worden.

STANDARD: Hält das Islamgesetz einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand?

Kurz: Das Gesetz ist bereits sehr lange in Vorbereitung und unter intensiver Einbindung der islamischen Glaubensgesellschaften von zwei Ministerien erarbeitet worden. Der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts war eingebunden. Insofern vertraue ich auf die Kompetenz aller Beteiligten. Es gibt auch Punkte, die für Kritik sorgen, aber ich bin überzeugt, dass es falsch wäre, bei Fehlentwicklungen wegzusehen.

STANDARD: Sie sprechen von der Finanzierung durch das Ausland?

Kurz: Ja. Die Finanzierung aus dem Ausland ist ein massives Problem. Es gibt Bereiche, wo Länder wie etwa Saudi-Arabien nicht nur finanzieren, sondern auch großen Einfluss nehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in Österreich gesellschaftspolitische Einflussnahme aus Ländern wollen, wo die Rechte von Frauen massiv eingeschränkt sind. Die Reduktion der Auslandsfinanzierung halte ich, weil sie oft Hand in Hand mit Einflussnahme und Bevormundung einhergeht, für eine absolute Notwendigkeit. Dass einige europäische Länder, aber auch Kanada, an uns herangetreten sind und Interesse an unserem Islamgesetz gezeigt haben, zeigt mir, dass das ein Problem ist, mit dem wir nicht alleine sind. Wir sind eben eines der ersten Länder, das versucht, Lösungen für diese Probleme zu finden. Dass es darüber dann eine lebendige Diskussion gibt, war zu erwarten. (Teresa Eder, Gianluca Wallisch, DER STANDARD, 31.12.2014)