Der Mensch ist ein komischer Vogel. Er fährt mit einem Affenzahn auf zwei Brettern Richtung Abgrund und als wäre dies des Irrsinns nicht genug, fliegt er hernach den Berg hinab. Das Ganze bei einer Geschwindigkeit jenseits der hundert Stundenkilometer. "Es ist wider den eigenen Instinkt", sagt Hubert Neuper.

Faszination Skifliegen? "Die Natur will nicht, dass Du es tust."

Einst war der 54-Jährige selbst ein erfolgreicher Skispringer, nun organisiert er den Skiflugweltcup am Kulm. Neuper kennt die Gedanken vor dem Sprung: "Die Natur will nicht, dass Du es tust. Aber das Adrenalin und die Euphorie treiben Dich hinunter. Es ist ein Gefühl zwischen Vorfreude und Angst."

Umbau am Kulm: Der Tisch wurde verkürzt, der Turm adaptiert, der Vorbau angehoben.
Foto: Reuters/Zivulovic

Die Skiflugschanze im steirischen Tauplitz hat ein Jahr der Veränderung hinter sich. 4,2 Millionen Euro wurden von Bund und Land in die Anlage investiert, um den Ansprüchen der Fédération Internationale de Ski (FIS) gerecht zu werden. Die abgelaufene Genehmigung wäre andernfalls nicht mehr erteilt worden. Der Schanzentisch wurde um 23 Meter zurückversetzt und angehoben, die Anlauflänge auf 123 Meter verkürzt. In Folge wurde der Vorbau angepasst und der Auslauf verbreitert.

Hillsize 225 Meter

Die Maßnahmen sollen allesamt der Sicherheit dienen. "Der Absprung kam am alten Profil zu spät, der Druck im Anlauf war an dieser Stelle nicht mehr optimal", sagt Neuper. Nun soll der Flug für den Sportler leichter kalkulierbar werden.

Der Schanzenrekord von Gregor Schlierenzauer aus dem Jahr 2009 liegt bei 215,5 Meter. Die Voraussetzungen für eine neue Bestmarke wurden mit dem Umbau geschaffen, der Kulm darf sich als größte Skisprungschanze der Welt bezeichnen. Den Titel muss man sich allerdings mit dem norwegischen Vikersundbakken und der Letalnica bratov Gorišek im slowenischen Planica teilen, da wie dort liegt die Hillsize ebenfalls bei 225 Meter. An diesem Punkt beträgt das Gefälle im Auslauf noch 32 Grad.

"Dort kann der Springer einen ganz normalen Job ausüben, also sanft landen", sagt Neuper. Und danach? "Wird es deutlich unangenehmer, als würde man von einem mehr als zwei Meter hohen Sessel springen." Es benötige besondere Fähigkeiten, um einen Flug in Weltrekordnähe, also jenseits der 240 Meter, zu stehen. Ein Schlierenzauer, ein Anders Jacobsen oder ein Robert Kranjec seien für solche Sphären geschaffen: "Ihre Flugkurve ist flacher, also fallen sie weniger brutal herunter."

Querschnitt des Kulms im Maßstab 1:500. In schwarz das alte Profil, in rot das neue, in blau die Flugkurve zum K-Punkt. Den Bauplan inklusive Hillsize und Auslauf als pdf-Datei vergrößern.
Foto: Dipl. Ing. Friedrich Mayer

Einer, der am Kulm etwas ungemütlich aufsetzte, war Christian Nagiller. Im Februar 2003 landete der ehemalige Juniorenweltmeister aus Hall in Tirol bei 220 Meter, also zwanzig Meter über der damaligen Hillsize und quasi im Flachen.

Zurückhaltung? "Man muss immer aggressiv springen."

Nagiller, der mittlerweile ein Krankentransport-Unternehmen betreibt, konnte den Sprung zwar stehen, dann löste sich seine rechte Bindung und er kam zu Sturz. Adieu, Schanzenrekord. "Die Umstellung von der Groß- auf die Flugschanze hat immer für Kribbeln gesorgt", sagt er zwölf Jahre später, "aber nach ein paar Flügen hatte ich die Situation ganz gut im Griff." Gab es Zurückhaltung? "Nein, man muss immer aggressiv springen, sonst hat man keine Chance."

Erhöhte Geschwindigkeit

Ob Springen oder Fliegen, es gilt die Abfahrtshocke optimal in eine Flugposition umzuwandeln und dabei den Luftwiderstand so gering wie möglich zu halten. Allerdings beträgt der Speed im Anlauf bei Großschanzen nur 90 Stundenkilometer, auf Flugschanzen kann man bis zu 105 erreichen. "Der Unterschied ist spürbar", sagt Nagiller.

Am Konstruktionspunkt wird das Gefälle des Schanzenauslaufs flacher. An der Hillsize beträgt es noch 32 Grad. Nicht nur dort zeigen sich Unterschiede zwischen Sprung und Flug.

Dem Absprung käme beim Fliegen etwas weniger Bedeutung zu, in der Luft hätte der Springer bei einer Flugzeit von rund acht Sekunden aber deutlich mehr Handlungsspielraum. Im letzten Drittel müsse man einen zu tiefen Fall verhindern, der Wind stelle eine nicht zu beeinflussende Unbekannte dar.

"Er kann einen Unterschied von bis zu 40 Meter machen, der Einfluss bewegt sich außerhalb der dem Springer bekannten Bandbreite", erläutert Neuper. 4000 Quadratmeter Windnetze sind aktuell am Kulmkogel gespannt, um zumindest den Seitenwind einzudämmen.

Grenzbereich? "Ein Fehler auf einer Flugschanze kann fatale Folgen haben."

Wo fängt für den Skiflieger also die entscheidende Phase an? "Oben, im Kopf", sagt Nagiller. Auch Neuper betont die mentale Komponente. Der Springer würde sich in eine Zone wagen, in der ihm die Überforderung drohe. An dieser Stelle, in diesem schmäler werdenden Grenzbereich, sende das Gehirn eindeutige Nachrichten aus: "Auf einer Flugschanze kann ein Fehler fatale Folgen haben."

Selbst ein Weltklassespringer wie Thomas Morgenstern war vor einem Unfall nicht gefeit, am 10. Jänner 2014 stürzte der Kärntner im Training am Kulm und zog sich schwere Verletzungen an Kopf und Lunge zu. Ein Unfall, der noch relativ glimpflich ausging, der dem Olympiasieger seinen Rücktritt wenige Monate später aber doch leichter gemacht hat.

"Wir sind an der Grenze", sagt der ehemalige Doppelweltmeister Walter Steiner 1974.
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"Das Skifliegen hat solche Dimensionen angenommen, dass es nicht mehr ganz ungefährlich ist. Wir sind an der Grenze, jeder hat dadurch ein wenig Angst", sagt der zweifache Weltmeister Walter Steiner im Film "Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner". Die Dokumentation von Werner Herzog entstand 1973, Steiner sprang damals mit Pudelmütze zu 179 Meter.

Ein neuer Weltrekord am Kulm? "Es ist sicher möglich."

Mittlerweile liegt der am 11. Februar 2011 in Vikersund aufgestellte Weltrekord bei 246,5 Meter, der bereits zurückgetretene Norweger Johan Remen Evensen hält ihn. Sind solche Dimensionen am Kulm vorstellbar? "Mit Aufwind kann man über 240 Meter fliegen", gibt sich Neuper zurückhaltend. "Es ist sicher möglich", sagt Nagiller.

Politik der kleinen Schritte

Das Reglement für das Schanzenprofil wurde jedenfalls ausgereizt: der Höhenunterschied zwischen Schanzentisch und Auslauf beträgt 135 Meter. Bei 150 Meter Differenz seien sogar Sprünge bis zu 290 Meter denkbar. Warum also nicht gleich die Grenzen ausloten? "Weil sich der Sport in kleinen Schritten entwickeln muss."

Um einen spannenden Wettkampf zu garantieren, müsse ein größerer Kreis von Athleten den Anforderungen der Anlage gerecht werden und die Hillsize erreichen. "Es hätte keinen Sinn, wenn die Hälfte des Feldes am Vorbau landet. Das würde unserem Sport schaden."

Der Norweger Sondre Norheim legte 1868 vor: 19,5 Meter! 2011 setzte sein Landsmann Johan Remen Evensen mit 246,5 Meter in Vikersund die vorläufig letzte Bestmarke.

Wenn der Tross der Skispringer nach Bad Mitterndorf reist, wird der Anblick der neuen Anlage den Sportlern dennoch Respekt abringen: "Mit Sprüngen über 130 Meter, wie sie bei der Vierschanzentournee üblich sind, landet man bei uns direkt auf dem Vorbau".

Dimensionen? "Mit Sprüngen wie bei der Tournee landet man auf dem Vorbau."

Die Familie Neuper und der Kulm, das ist eine intensive Beziehung. Hubert Neuper senior war es, der die Schanze 1950 mit einem Sprung auf 96 Meter einweihte. 1982 gewann ebendort der Junior den Skiflug-Weltcup und erreichte dabei 167 Meter, seit 1993 organisiert er den Bewerb.

Der slowenische Herr der Schanzen

Im kommenden Jahr findet am Kulm pünktlich im Zehn-Jahres-Rhythmus nach 1975, 1986, 1996 und 2006 zum fünften Mal die Skiflug-Weltmeisterschaft statt. Bis dahin soll die Anlage noch leicht adaptiert werden, die großen Arbeiten wurden unter der Planung des slowenischen Architekten Janez Gorisek aber bereits im vergangenen Jahr abgeschlossen.

Gorisek hat einschlägige Erfahrung. Nicht nur dass er bei den Olympischen Winterspielen 1956 im Skisprung für Jugoslawien an den Start ging, hat er auch am Bau der Flugschanzen in Planica, Oberstdorf und Vikersund mitgewirkt.

Der elitäre Kreis der Skiflugschanzen im Überblick. Inklusive des stillgelegten Copper Peak.
Lange Zeit sorgte die Schanze in Planica für Weltrekorde, zuletzt war es der Vikersundbakken.

Weltweit existieren sechs Skiflugschanzen: die eben erwähnten, Harrachov und Copper Peak. Der stillgelegte Copper Peak ist eine Art Lost Place im US-Bundesstaat Michigan und stellt mit einer Höhe von 73 Meter den größten Sprungturm der Welt. Der letzte Bewerb fand 1994 statt, den Schanzenrekord von 158 Meter teilen sich seither die beiden Österreicher Werner Schuster und Matthias Wallner.

Ist der Kulm nach dem Umbau noch eine Naturschanze? "Zu 90 Prozent"

Sämtliche Versuche, die Schanze wiederzubeleben sind bisher gescheitert, ein gutes Fotomotiv gibt sie mit ihrer imposanten Stahlträgerkonstruktion aber noch immer ab. Von einer Naturschanze kann man hier wahrlich nicht sprechen.

Aber ist diese Bezeichnung für den Kulm noch zulässig? Immerhin wurden 3000 Kubikmeter Beton und 600 Tonnen Stahl verbaut, die Anhebung des Vorbaus war nicht mit dem Bewegen von Erdmassen zu bewältigen. Neuper bleibt den Begriffen treu: "Es ist eine Naturschanze, wenn auch nur noch zu 90 Prozent".

Zehn Meilensteine am Kulm: Von der Einweihung durch Hubert Neuper senior bis zum Schanzenrekordhalter Gregor Schlierenzauer.

Am Donnerstag um 16 Uhr weiht Gregor Schlierenzauer standesgemäß den neuen Bakken ein. "Wer, wenn nicht er? Gregor soll der erste Mensch sein, der den Kulm in eine neue Ära führt", sagt Neuper. "Der Kulm definiert für mich ein Stück Sportgeschichte", sagt der Auserwählte. Am Samstag hebt der Weltcup an, ein neuer Meilenstein ist vorprogrammiert.

Geschichte schreiben

So wie damals, als Sepp "Bubi" Bradl 1953 vor 50.000 Zusehern auf 120 Meter flog. Als Andreas Felder im Rahmen der Weltmeisterschaft 1986 mit 191 Meter den Weltrekord von Matti Nykänen einstellte. Als Jens Weißflog 1996 die 200-Meter-Schallmauer durchbrach. Oder als Daniela Iraschko 2003 als erste und bislang einzige Frau über 200 Meter weit flog. Es ist angerichtet. (Philip Bauer, derStandard.at, 8.1.2015)