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Haft ohne Ende: Etliche Straftäter, die als "geistig abnorm" gelten, müssen in Österreich auch nach Absitzen der Strafe wegen "Gefährlichkeit" weiterhin im Gefängnis bleiben.

Foto: APA/Helmut Fohringer

Wien - Der österreichische Maßnahmenvollzug, in dessen Rahmen zurechnungsunfähige und als gefährlich geltende Straftäter inhaftiert sind, ließ 2014 vor allem durch Skandale von sich hören. Im März wurde dem Justizministerium der Fall eines psychisch kranken Häftlings bekannt, der in der Justizvollzugsanstalt Stein seine Füße der Verwesung überlassen hatte, ohne dass dies den Justizwachebeamten oder anderen Betreuern aufgefallen wäre.

Im Juni - der Fall war vom Falter an die Öffentlichkeit gebracht worden - ordnete Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) die Bildung einer interdisziplinären Arbeitsgruppe an. Sie hat den Auftrag, Änderungsvorschläge für Paragraf 21 des Strafgesetzbuches (" Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher") und die damit verbundene Praxis zu unterbreiten.

Vorschläge bald auf dem Tisch

Die Vorschläge sollen in den ersten Wochen des Jahres 2015 auf dem Tisch liegen. Laut Brandstetter werden sie "sowohl organisatorische als auch legislative und fachliche Reformschritte" umfassen. Denn, so der Minister anlässlich der Eröffnung des Forschungszentrums Menschenrechte der Uni Wien: "Was wir brauchen, ist eine Entlastung des Maßnahmenvollzugs im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention."

Damit bezog sich Brandstetter auf einen Umstand, der die Reformbereitschaft in Sachen Maßnahmenvollzug wohl ebenso beflügelt hat wie die sich wiederholenden Berichte über Missstände: Im Umgang mit psychisch kranken Straftätern ist Österreich im Europavergleich inzwischen zu einem menschenrechtlichen Problemfall geworden.

Republik riskiert Verurteilung

Tatsächlich riskiere die Republik wegen der aktuellen Maßnahmenvollzugssituation eine Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, sagt der Menschenrechtsexperte der Uni Wien, Manfred Nowak, im Gespräch mit dem Standard. "Das ergibt sich aus bisherigen EGMR-Sprüchen zur Sicherungsverwahrung in Deutschland sowie aus den darauffolgenden Entscheiden des deutschen Bundesverfassungsgerichts."

Konkret wird laut Experten hierzulande seit Jahren gegen Artikel fünf der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen, der das "Recht auf Freiheit und Sicherheit" garantiert. Freiheitsentzug ist demnach nur im Fall rechtmäßiger Festnahme oder Haft in Verbindung mit Gründen zugelassen, die in sechs Punkten aufgezählt werden: etwa, weil er oder sie "geisteskrank" ist.

Eine "Geisteskrankheit" allein rechtfertigt jedoch keine Haft. Auch eine Gefährlichkeitsprognose ohne gleichzeitigen Tatvorwurf ist nicht ausreichend. Doch in Österreich wird dies praktiziert, und zwar bei immer mehr Gefangenen, weil sich die Zahl von Urteilen nach Paragraf 21 StGB seit 2004 verdoppelt hat: Auf Grundlage von Paragraf 21/2, der den Umgang mit Straftätern regelt, die zum Zeitpunkt der Tat psychisch angeschlagen, aber zurechnungsfähig waren, kann eine Unterbringung als "geistig abnorm" de facto unbegrenzt verlängert werden, wenn ein Gutachten fortgesetzte Gefährlichkeit attestiert.

Seit einem Jahr bekannt

Besagte Einschätzung ist dem Justizministerium seit rund einem Jahr bekannt. Damals veröffentlichten Nowak und Stephanie Krisper, Wiener Juristin und Mitarbeiterin des Wiener Ludwig-Boltzmann-Instituts für Menschenrechte, in der Zeitschrift Europäische Grundrechte (EuGRZ) eine diesbezügliche Expertise samt rechtspolitischen Empfehlungen.

Diesen will man nun großteils folgen, heißt es im Justizministerium. Zur Diskussion stehe Paragraf 21 StGB als solcher, ebenso die Verbesserung der Qualität psychiatrischer Gutachten. Und es gehe um noch eine weitere Klärung von wohl großer Tragweite: Ob Straftäter, die zum Zeitpunkt ihrer Tat, wie es Paragraf 21/1 besagt, zurechnungsunfähig waren, statt in Einrichtungen des Strafvollzugs künftig in psychiatrische Einrichtungen kommen sollen: auch das eine Maßnahme in Sinne des Menschenrechtsaspekts. (Irene Brickner, DER STANDARD, 27.12.2014)