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"Lawrence of Arabia": Der britische Offizier organisierte den Aufstand der Araber gegen die Osmanen, die bis 1918 Teile der arabischen Welt verwalteten. Den versprochenen Staat bekamen die Araber nicht.


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Die IS bei ihrem Einzug in Mossul,...

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...kurdische Kämpfer in Kobane,...

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...Pro-Morsi-Demonstrationen in Kairo: Hinter allem stecken die USA?

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Manche Verschwörungstheoretiker - nicht nur im Nahen Osten - sind davon überzeugt, dass die USA über den Umweg des "Chaos" eine völlig neue Landkarte des Nahen Ostens schaffen wollen.

Von außen fällt die Beschreibung jenes Teils der arabischen Welt, der heute vom "Islamischen Staat" (IS) beherrscht oder bedroht ist, relativ flach aus: auf der einen Seite eine fanatisierte Mörderbande, die alle humanitären Werte mit Füßen tritt, auf der anderen Seite eine Bevölkerung, die Hilfe und Befreiung, von wem sie auch immer kommt, herbeisehnt. Aber auch wenn man näher an dieses flache Bild herantritt, gewinnt es nicht unbedingt an Tiefenschärfe: Im Gegenteil, es erscheint verschwommen, verzerrt, es erscheinen absurde Fratzen.

Es genügt auch nicht, in die Diskussion über den "Islamischen Staat" die bekannte Tatsache einzubringen, dass solche Gruppen auf die Kooperation von Teilen der Bevölkerungen, die sie überrennen, angewiesen sind. Nein, man muss den "Islamischen Staat", so schwer das fällt, anders verorten, eine regionale Innenperspektive annehmen, den Blick, mit dem ihn nicht wenige sehen: als eine große westliche Verschwörung. Wir glauben, das ist ihr Krieg, sie glauben, wir haben ihn gemacht.

Und das ist, wohlgemerkt, nicht die Ansicht von wirklich radikalen Leuten. Diese können sich ja zumindest teilweise - so sie Sunniten sind - mit der Botschaft der IS identifizieren und diese als eine Hervorbringung der eigenen regionalen Wünsche betrachten: eine eigene "authentische" islamische Ordnung und ein "Staat", den man selbst schafft - und nicht einer, dessen Grenzen mit dem vielzitierten Lineal gezogen sind, von Briten und Franzosen im und nach dem Ersten Weltkrieg. Die arabischen Nationalstaaten, kolonialistische Gründungen, die nach einem nur formalen Rückzug der Mandatsverwalter von Diktatoren, die in Wahrheit westlichen Marionetten waren, regiert wurden: Jetzt sind sie an ihrem Ende angekommen.

Das betrifft nicht nur Syrien und den Irak, wo sich, wenn man die Landkarte der IS-Eroberungen betrachtet, die Ränder eines möglichen neuen Staatsterritoriums abzeichnen. Auf der Liste stehen auch Staaten wie das durch eine Teilung des britischen Völkerbundmandats 1922 geschaffene Königreich Jordanien - oder auch Saudi-Arabien, das nie unter einem europäischen Mandat stand, aber durch seine frühe Bindung an US-Ölfirmen immer schon als amerikanischer Klient galt. Und Israel/Palästina wäre demnach ohnehin Teil Großsyriens: die alte Provinz Al-Sham, die die IS früher im Namen trug, als sie noch ISIS hieß.

Arme getäuschte Narren

Die einen glauben also an den "Islamischen Staat", ein anderer Teil der Bevölkerungen hält die IS-Gläubigen für arme Narren, die einer riesigen Täuschung des Westens aufsitzen. Aber auch sie teilen keineswegs ein einheitliches Narrativ, eine gemeinsame Erzählweise. Sie können sich nur darauf einigen, dass die IS eine künstliche Kreation ist. Der Spieler, der die Puppe IS geschaffen hat und die Fäden in der Hand hat, ist meist entweder die USA oder Israel oder beide zusammen. Der Zweck der Mission IS hingegen - der liegt ganz im Auge des Betrachters. Hier der Versuch einer kleinen Motivsammlung:

1. Die IS wurde geschaffen, um der US-Armee die Rückkehr in die Region zu erlauben,

2. um den Irak und Syrien territorial zu zerschlagen,

3. um die Sunniten und Schiiten in einen großen Krieg zu hetzen, der die islamische Welt vernichten soll,

4. um den arabischen Sunniten den Krieg erklären zu können, zugunsten des schiitischen Iran, mit dem der Westen in Wahrheit ja immer gepackelt hat,

5. um gemeinsam mit den Sunniten die Schia zu vernichten,

6. um einen Kurdenstaat zu schaffen, als zweiten ethnisch definierten Staat in der Region neben Israel.

Von diesen fünf Punkten gibt es etliche Varianten, etwa sieht 2, die Zerschlagung Syriens und des Irak, als Profiteur Israel vor, das mit einer noch stärker zerstückelten arabischen Welt zu tun hätte, aber auch die Türkei, die Stücke Syriens bekommen soll (Aleppo), vielleicht sogar des Irak (Mossul). Nummer 6, die Verschwörung zur Schaffung eines Kurdenstaats, bekommt man besonders in der Türkei reichlich um die Ohren geschmissen, aber auch die Iraner sind da voll dabei.

Narrativ Nummer 3, der von außen angezettelte innerislamische Konflikt, ist hingegen sehr Iran-typisch: Während viele Sunniten, besonders in Saudi-Arabien, die "schiitische Bedrohung" - das angebliche iranische Projekt, die islamische Welt zu schiitisieren - als sehr real ansehen, wird dies als Kränkung von den Schiiten woandershin verschoben.

Die Erschaffung Bin Ladens

Das wohlfeilste Argument für die westlichen Machenschaften bietet die Geschichte anderer radikaler Gruppen: Haben die USA nicht die Mujahedin in Afghanistan unterstützt geschaffen, um die Sowjets zu bekämpfen? Osama Bin Laden - und damit Al-Kaida - gemacht? Hat nicht Israel die Hamas geschaffen, um die PLO zu schwächen? Nicht immer lassen sich diese Übertreibungen in der realen Geschichte verorten, wie bei der Behauptung, auch die Islamische Revolution 1979 im Iran war eine große amerikanische Verschwörung - und der Aufstieg der Muslimbrüder in Ägypten nach der Revolution 2011: Die USA hätten nach dem Ausbruch der Revolten in der arabischen Welt (Variante: bereits vorher) beschlossen, überall Muslimbrüder-Regime zu installieren.

Muslimbrüder an die Macht

Wenn die arabischen Länder durch Wahlen legitimierte islamische Führungen bekämen - Modellfall Türkei -, dann würde dem radikalen Islam das Wasser abgegraben werden, heißt es. Deshalb waren die USA gar nicht erfreut, als Muslimbruderpräsident Mohammed Morsi damals von einer demokratisch legitimierten - so sehen es die Befürworter - Bewegung gestürzt wurde. Damit wären die US-Pläne nämlich durchkreuzt worden.

Woher kommt jedoch dieser Zustand, nie das zu glauben, was man sieht, die Ursachen nie in der Region, sondern immer außerhalb zu suchen, den historischen Abläufen ihre eigene Dynamik abzusprechen? Der psychopathologische Zustand, in dem die Verschwörungstheorien gedeihen, hat genau die gleichen Wurzeln wie der Glaube an den "Islamischen Staat" : die Politik der westlichen Mächte im Vorderen Orient.

Es beginnt im Ersten Weltkrieg, als die Briten Ende 1915 den Aufstand des Scherifen von Mekka, Hussein bin Ali, gegen die Osmanen, die den Hijaz kontrollieren, schmieden. Eigentlich war es ja keine britische Initiative, sondern eine des Scharifen Hussein selbst, der wusste, dass ihn die Jungtürken, die das Osmanische Reich übernommen hatten, fallen lassen wollten. Insofern waren auch die Briten ein klein wenig Täuschungsopfer - umso mehr, als sie auf die wilden Übertreibungen eines arabischen Nationalisten namens Faruqi hereinfielen, der behauptete, fast alle arabischen Offiziere in der osmanischen Armee ständen bereit, sich gegen die Osmanen zu erheben.

Zum eher zufälligen Protagonisten des arabischen Aufstands unter britischer Ägide wird der hyperaktive britische Verbindungsoffizier T. E. Lawrence. 99 Jahre nachdem er für den arabischen Aufstand tätig wurde, also 2014, schafft er es in eine Rede des türkischen Präsidenten Tayyib Erdogan: Lawrence sei ein Spion gewesen (was ja gewissermaßen stimmt). Heute seien wieder Lawrences unterwegs, sagt Erdogan, und wieder würden Sykes-Picot-Abkommen geschlossen.

Denn während Lawrence den Arabern die Karotte der Unabhängigkeit vor die Nase hielt, teilten gleichzeitig 1916 die Diplomaten Mark Sykes und François Georges-Picot die arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches in britisch-französische Einfluss- und Kontrollzonen auf. Dazu kam 1917 in der Balfour-Erklärung die britische Unterstützungszusage für eine "nationale Heimstätte" der Juden in Palästina.

Vielleicht ist für die Menschen im Nahen Osten wirklich deshalb nichts, was es vorgibt zu sein: Sie sehen sich als Spielball fremder Mächte, als Objekte in einem großen Plan, den sie sich zusammenreimen, von dem sie nur genau wissen, dass er etwas anderes ist als die proklamierte Politik. Der Kalte Krieg zwischen Westen und Osten, der später jahrzehntelang die Allianzen der Großmächte in der Region bestimmte, machte die Sache nicht besser. Und die USA hatten die Europäer natürlich längst als Strippenzieher abgelöst.

An diesem Punkt steigen auch viele Europäer ein: Ein Buch von Zbigniew Brzezinski von 1997, längst pensionierter US-Sicherheitsberater, (The Grand Chessboard), und Aussagen von US-Außenministerin Condoleezza Rice von 2006 gelten auch 2014 als "Beweis" für die Existenz des "New Middle East"-Projekts, das sich gerade in der Durchführung befindet. Dabei gelte es, die Region in ein "konstruktives Chaos" zu stürzen, aus dem eine völlig neue Ordnung - und Landkarte - zugunsten des einzigen Hegemonen USA entstehen werde. Dass die von Brzezinski angenommene Unipolarität längst im Orkus der Geschichte gelandet ist und dass sich Rice damals ganz offensichtlich die von ihrer Regierung verursachte katastrophale Situation schönreden wollte: Wen stört's. Der "Islamische Staat" passt einfach zu gut zur Chaostheorie. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 27.12.2014)