Das Regime von Nordkoreas Diktator Kim Jong-un aus der Sicht des Flüchtlings Kang Chun-hyok. Seit zehn Jahren lebt der 28-jährige Kunststudent in Seoul.

Foto: Kang Chun-hyoik

Zerrissen zwischen den beiden Koreas: "Verwirrende Identität" lautet der Titel dieses Bildes von Kang Chun-hyok.

Foto: Kang Chun-hyoik

Mit Anfang zwanzig stand Gyoon Heo vor dem Nichts, wieder einmal. Tagsüber briet er Burger in einer amerikanischen Fastfoodkette, nachts hielt ihn eine endlose Gedankenkette wach. Auch wenn er die abgewetzte Kleidung längst abgelegt hatte, den fremdartigen Akzent, selbst die Bekanntschaften zu seinen Landsleuten – die Blicke der Leute blieben an ihm haften. Endlich hatte er Seoul erreicht, diese schillernde 20-Millionen-Metropole, die er sich einst als illegaler Flüchtling in China wie eine paradiesische Wohlstandsinsel ausmalte, und ausgerechnet hier sollte er nun von seiner ersten schweren Depression erschüttert werden. "Ich fühlte mich, als würde ich niemals gut genug sein. Die Leute hier sind verrückt nach gesellschaftlichem Erfolg. Die Ell bogenmentalität war ein großer Schock für mich", sagt Gyoon.

Die Geschichte des 28-Jährigen handelt von der Sinnsuche eines jungen Migranten, wie sie wohl die meisten seiner Altersgenossen durchgemacht haben. Doch anders als sie hatte Gyoon keine Vorbilder, zu denen er aufschauen konnte, keine Identität, die ihm einen Anker bot. Alles, wofür sein Heimatland steht, ist ein grausames Terrorregime, sind hungernde Kinder und fremdgesteuerte Parteikader. Die ganze Welt diskutiert derzeit über die Filmparodie The Interview, macht sich lustig über den explorierenden Kopf von Kim Jong-un und spekuliert über die Cyberarmee dieses isolierten Staates. Über das Schicksal der Bevölkerung wird wie so oft geschwiegen.

Zehntausende Flüchtlinge

Der Politikstudent ist einer von 27.000 Nordkoreanern, die im südlichen Nachbarland eine neue Heimat gefunden haben. Nur ein Bruchteil von ihnen tritt an die Medien. Meist sind es jene Flüchtlinge vom unteren Ende der Gesellschaft, die – unter der Ägide von NGOs und politischen Stiftungen – mit ihren Leidensgeschichten ein Schlaglicht auf die Gräuel des Kim-Regimes werfen. Leute wie Gyoon meiden die Öffentlichkeit, weil sie nicht darauf reduziert werden wollen, für sensationslüsterne Reporter die Opferrolle zu spielen. Um ihn ausfindig zu machen, helfen keine Google-Suchen oder Anrufe bei Menschenrechtsorganisationen. Ein offener Blick genügt.

Etwa auf jenes Kaffeehaus im Uni-Viertel von Seoul, in dem sich gestresste Erstsemestler bei Filterkaffee und aufgeschlagenem Laptop für die Abschlussprüfungen wappnen. Hier sitzt er in der hintersten Ecke, eingehüllt in einen dunklen Dufflecoat, mit ins Gesicht fallender Fransenfrisur, skeptischem Blick. "Wieso ausgerechnet ich? Ich bin doch nur ein ganz gewöhnlicher Nordkoreaner", erwidert er die erste Interviewanfrage, und beantwortete sie zugleich.

Selten mehr als Reis mit Kimchi

Aufgewachsen ist Gyoon Heo in Chongjin, einer Hafenstadt im Nordosten des Landes. Die Mutter lehrte an der Uni, der Vater hatte einen Posten bei der Partei. Sein Horizont reichte kaum weiter als von der elterlichen Zweizimmerwohnung bis hin zum kleinen Fluss, durch den er mit den Kindern aus der Nachbarschaft während endloser Sommerabende durchs flache Wasser watete. Eine friedliche Kindheit sei es gewesen, die Familie glücklich.

Selbst von der großen Hungersnot in den 90ern, als eine tödliche Kombination aus Misswirtschaft, ausbleibenden Hilfslieferungen und Flutkatastrophen mehr als eine halbe Million Nordkoreaner dahinraffte, habe er damals nicht viel mitbekommen. Erst heute, wenn er darüber nachdenkt, würde er ein paar Anzeichen deuten können. So hätte man ein paar seiner Klassenkameraden ansehen können, wie der Hunger ihre Körper ausgemergelt hatte. Er selber habe jedoch immer genug zu essen gehabt, auch wenn es selten mehr als Reis mit Kimchi gab. "Dass unsere Familie geflüchtet ist, hatte nichts mit der wirtschaftlichen Situation zu tun", sagt er.

120.000 politische Gefangene

Das Ereignis, das seine Welt in ein Vorher und Nachher teilen sollte, folgte mit jenem Abend, als der Vater nicht mehr von der Arbeit zurückkehrte. Gyoon konnte damals nicht ahnen, dass er ihn nie mehr wiedersehen, geschweige denn je den Grund seiner Verhaftung erfahren würde. Erst nach einem quälend langen Monat voll unbeantworteter Fragen rief die Mutter ihre beiden Söhne zu sich, um ihnen die wohl folgenreichste Frage ihres Lebens zu stellen: "Wollt ihr auch dorthin gehen, wo Papa ist? Wenn nicht, müsst ihr das Land verlassen – für immer."

Rund 120.000 politische Gefangene sitzen laut dem jüngsten Bericht einer UN-Kommission in nordkoreanischen Lagern. Dort werden sie unter ständigem Hunger als Arbeitssklaven ausgebeutet und regelmäßig von Wärtern misshandelt. Ob Gyoon Heos Vater noch immer in einem der Lager vegetiert oder bereits gestorben ist – mit dieser Ungewissheit wird er zurechtkommen müssen.

"Jetzt werde ich sterben"

Auch Lee Chul-hyuns Vater wurde in einem solchen Lager inhaftiert, da war er noch ein kleines Kind. Zwanzig Jahre später steht er nun auf der Bühne eines Seouler Kellerlokals, hält in der zittrigen Hand das Mikrofon, vor sich ein brechend voller Saal von Austauschstudenten. Sie folgten der Einladung einer Menschenrechtsorganisation, um Lees Geschichte zu hören. Er wird sie heute zum ersten Mal vor Publikum erzählen.

"Wurde auf euch schon mal eine Pistole gerichtet? Auf mich schon", setzt Lee mit brüchiger Stimme an. Das Publikum hängt bereits nach den ersten Worten gebannt an seinen Lippen: "Ich dachte mir, das war’s – jetzt werde ich sterben. Aber hier stehe ich vor euch, noch immer am Leben." Die nächste halbe Stunde wird Lee von diesem Wunder erzählen.

Nackt in einem Eisenkäfig

Während seiner Flucht nach China sei er zweimal gefangen genommen worden, 15 Tage lang nackt in einen Eisenkäfig gesperrt, blutig geschlagen und mit einem glühenden Kohlenstück misshandelt. Wie um seine Glaubwürdigkeit zu untermauern, zieht der 27-Jährige seinen Pullunder hoch. Die meisten im Publikum halten dem Anblick seiner Narben nicht stand.

Als Lee in ein Arbeitslager verschleppt werden sollte, konnte er flüchten. Mithilfe eines Schleppers und geschmierter Grenzbeamter gelangte er nach China, von dort übers Mekongdelta zur südkoreanischen Botschaft in Bangkok, dessen Mitarbeiter ihn schließlich nach Seoul ausflogen. Die Geschichte des jungen Nordkoreaners hält aber auch eine unangenehme Wahrheit bereit, der sich viele der Flüchtlinge stellen müssen: Ihr Leben lang haben sie an das System geglaubt, ihrem "Großen Führer" die Treue gehalten und die Verlogenheit der Propaganda oft erst in der Rückschau, nach langen Jahren im Exil durchschaut.

Parteimitglied im Norden "wahrscheinlich glücklich"

Selbst nachdem Lee Chul-hyun seine Kindheit im Waisenheim verbracht hatte, wo er viele seiner Freunde während der Hungersnot sterben sah, blieb es sein größter Wunsch, einmal Parteimitglied zu werden. Später, als junger Erwachsener in Pjöngjang, opferte er jede freie Minute für seinen Traum. Erst als ihm ein Partei kader offenbarte, dass ihm dieses aufgrund seines unehrenhaften Familienhintergrunds für immer verwehrt sein würde, brach Lee Chul-hyuns Welt endgültig zusammen. "Was wäre, wenn du damals in die Partei hättest eintreten können? Würdest du dann jetzt auch hier sein?", möchte jemand aus dem Publikum wissen. Lee lächelt verlegen. "Das ist ein wenig merkwürdig, so etwas hier zu sagen, aber wahrscheinlich wäre ich als Parteimitglied in Nordkorea glücklich geworden."

Natürlich ist es anders gekommen, und man sieht ihm seine Dankbarkeit an, in Südkorea eine neue Heimat gefunden zu haben. Derzeit studiert er an einer Universität, um einmal Polizist zu werden – jenen Beruf zu ergreifen, den einst sein Vater ausübte. "Mein Leben lang war ich ein Opfer. Heute möchte ich das Böse bekämpfen", sagt Lee. Vielleicht könnte er in naher Zukunft etwas werden, wovon es in seiner Generation bislang viel zu wenige gibt: ein Role-Model, zu dem Nord- wie Süd koreaner gleichermaßen hinaufschauen können.

Erbe des Koreakrieges

Noch immer haben die Flüchtlinge in ihrer Wahlheimat mit Vorurteilen zu kämpfen. Sie gehen zurück auf den blutigen Koreakrieg in den 50er-Jahren, dessen Kampf zwischen Nord und Süd rund vier Millionen Menschenleben forderte. Heute wirken sie fort in der politischen Propaganda und medialen Hetze, und zwar auf beiden Seiten. Viele Erzkonservative verdächtigen die Nordkoreaner, entweder als verdeckte Spione für das Kim-Regime zu dienen oder ganz gewöhnliche Kriminelle zu sein, die lediglich vor der Strafverfolgung ihrer Heimat flohen. Für die extreme Linke gelten sie hingegen insgeheim als Vaterlandsverräter. Nicht viele Arbeitgeber sind bereit, Nordkoreaner einzustellen. Die meisten landen, obwohl viele höher qualifiziert sind, in Hilfsarbeiterjobs.

Gyoon Heo blickt dennoch zuversichtlich in seine Zukunft. Er studiert mittlerweile Politikwissenschaften an einer renommierten Uni, spricht sauberes Oxford-Englisch und hat sich auch ein Stück weit der Erwartungshaltung der Gesellschaft gebeugt. Ob er später einmal beim gesellschaftlichen Ringen um einen angesehenen Arbeitsplatz und Statussymbole mitspielen wird oder wie früher wieder jobben muss, um über die Runden zu kommen – beides sei ihm recht. Irgendwie wird es schon weitergehen. "Dass ich überlebe, darüber mache ich mir keine Sorgen. Nicht nach dem, was ich durchgemacht habe." (Fabian Kretschmer aus Seoul, DER STANDARD, 27./28. Dezember 2014)