Österreichs religiöse Landschaft hat schon einmal ganz anders ausgesehen. Luthers Reformation bewirkte, dass der größte Teil der damaligen österreichischen Erblande protestantisch wurde. Es folgten Jahrzehnte erbitterter, gewaltsamer Auseinandersetzungen. Die Habsburger beförderten die Gegenreformation, was zum Teil zur Vertreibung der Protestanten (nach Südosteuropa) führte. Mitte des 17. Jahrhunderts waren die österreichischen Länder weitgehend wieder rekatholisiert.

Ab da herrschte in Österreich jahrhundertelang ein Staatskatholizismus mit künstlerischen und geistigen Höchstleistungen, mit Volksfrömmigkeit, aber auch Gesinnungsdruck ("Mariä Hausdurchsuchung" hieß ein fiktiver Feiertag im katholischen Ständestaat der Dreißigerjahre). Nach dem Schrecken der NS-Zeit und der Befreiung gab die katholische Kirche den politischen Herrschaftsanspruch auf und versöhnte sich mit der Sozialdemokratie (Kardinal Franz König). Seit zwanzig, dreißig Jahren ist sie auf dem Rückzug. Dazu trugen die allgemeine Säkularisierung, aber auch Missbrauchsskandale bis in höchste Ämter (Kardinal Groër) bei.

In Wien leben derzeit rund 30 Prozent ohne Bekenntnis, rund 41 Prozent Katholiken, zweitstärkste Religionsgemeinschaft sind bereits die Muslime mit rund zwölf Prozent. Nach diversen Modellen der Wirel-Studie der Akademie der Wissenschaften wird der Anteil der Katholiken in Wien innerhalb der nächsten dreißig Jahre auf 30 Prozent sinken, der der Muslime auf mehr als 20 Prozent steigen (je nach Geburten- und Zuwanderungsentwicklung).

Die katholische Kirche legt Pfarren zusammen, besetzt die existierenden teilweise mit Priestern aus anderen Ländern bis nach Afrika und scheint sich mit dem Schrumpfen abgefunden zu haben. Die Muslime, die überwiegend türkischer und bosnischer Abstammung sind, treten nach langen Jahren großer Zurückhaltung zunehmend selbstsicherer auf. Dabei zeigen sich auch Risse in der muslimischen Glaubensgemeinschaft. Die "Muslimische Jugend Österreichs" begehrt gegen die Führung der Dachorganisation ÖIGG ("Österreichische Islamische Glaubensgemeinschaft" ) auf, weil diese das neue, angeblich zu restriktive Islamgesetz zu bereitwillig akzeptiert habe. Der sogenannte Schura-Rat der ÖIGG lehnt das Gesetz jetzt auch ab.

Dabei wird es nicht bleiben. Die knapp 600.000 Muslime in Österreich (Schätzung des Islaminstituts der Uni Wien) werden mehr und mehr aus ihrer Zurückhaltung heraustreten. Die nationalreligiöse Anmaßung des türkischen Präsidenten Erdogan wird dazu ihren Teil beitragen. Junge Jihadisten, vor allem aus der besonders radikalisierten tschetschenischen Volksgruppe (rund 26.000), ziehen in den Krieg. Die Kluft zwischen den traditionellen Werten vieler Muslime und der liberalen Gesellschaft ist groß.

Aber die Entwicklungen gehen nicht nur in eine Richtung. Auch bei den Muslimen in Europa sind Säkularisierungstendenzen zu beobachten. Möglicherweise gibt Papst Franziskus mit seiner moderneren Sichtweise dem Katholizismus einen neuen Schub oder hält zumindest den Verfall auf. hans.rauscher@derStandard.at (Hans Rauscher, DER STANDARD, 24.12.2014)