Tunesien hat es geschafft: Als erstes - und auf längere Zeit einziges - Land des früher so genannten "Arabischen Frühlings" hat es einen glaubwürdigen politischen Prozess abgeschlossen. Unter der neuen konsensual geschriebenen tunesischen Verfassung wurden ein Parlament und nun auch ein Präsident gewählt.

Tunesien hat sich dabei für die historische Kontinuität entschieden. Mit seinen 88 Jahren und einer Karriere, die unter dem Modernisierer-Präsidenten Habib Bourguiba auf dem Höhepunkt war, eignet sich der Wahlsieger Béji Caid Essebsi gut als Objekt der Bourguiba-Nostalgie, die nach den turbulenten Revolutionsjahren grassiert.

Essebsi kann gleich einen Doppelsieg verbuchen: Seine Partei Nidaa Tounes hat ja auch die Parlamentswahlen gewonnen. Dass in ihr auch Ben-Ali-Leute Zuflucht gefunden haben, birgt jedoch die Gefahr, dass sich jene, die sich als revolutionäre Kräfte sehen - darunter die Islamisten der Ennahda-Partei -, nun als Opfer einer fortschreitenden Konterrevolution empfinden.

Dabei geht es nicht nur um eine ideologische Spaltung, sondern auch um eine geografische: Die Islamisten bleiben in manchen Landesteilen, besonders im Süden, weiter stark. Nun auf sie zuzugehen und sie einzubinden wäre ein politisch kluger Schritt Essebsis. Genauso wichtig sind soziale, wirtschaftliche - und rechtsstaatliche - Reformen, die den Menschen Vertrauen ins neue System geben. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 23.12.2014)