Romana Bartl verlor auf Khao Lak ihren besten Freund Peter.

Es war ein Zufall, dass ich nicht dabei war. Ich habe keinen Urlaub bekommen. Der Peter und der Attila, das waren meine Wahlfamilie. Den Peter kenn ich, seit ich 22 war, jetzt bin ich 50. Wir waren sehr, sehr eng und haben uns mindestens ein Mal die Woche gesehen.

Am 25. 12. sind sie in Khao Lak gelandet und haben mir noch ein Foto zugesendet, wo sie sich mit einem Cocktail zuprosten, alles prächtig. Deswegen hoffe ich, dass sie geschlafen haben, als es passiert ist und nichts mitbekommen haben, weil sie gefeiert haben und gejetlaged waren.

Für mich war das einer jener Nachweihnachtstage, wo man mit Freunden isst und trinkt, wir hatten einen Spieleabend. Ich bin dann am Sofa vor dem TV eingenickt und habe dann auf CNN die erste Meldung gehört – und war in der Sekunde munter. Ich denke mir: das gibt es nicht. Ich war völlig verwirrt und dachte mir: was bedeutet das?

Nachdem ich die ersten Satellitenbilder von dort gesehen habe, dachte ich mir: Da ist eigentlich gar nichts mehr. Dann hab ich meine Busenfreundin angerufen und sie aus dem Bett getrommelt. Sie war schon dort und hat das gekannt. Ab dem Moment ist es losgegangen mit unseren Aktivitäten. Ich habe die Familie vom Peter angerufen in Graz und gefragt: habt Ihr was gehört? In den österreichischen Medien war erst einmal gar nichts.

Völlig allein gelassen

Ich habe x-fach angerufen auf Peters Handy, aber es ging niemand dran. Ob die Sprachbox an war? So detailliert kann ich mich nicht erinnern. Ich hab dann beim Außenministerium angerufen, beim Roten Kreuz und am Flughafen, ich habe alles Mögliche versucht. Die Hotline ist dann ja erst viel später eingerichtet worden. Die damalige Außenministerin hat in Kärnten geurlaubt und es hat zuerst geheißen, es sind nur ganz wenige Österreicher betroffen, es ist nicht so schlimm. Da hat mein unendlicher Zorn begonnen zu wachsen.

Man war völlig allein gelassen mit diesem Irrsinn. Ich habe mich dann bis zu irgendwelchen thailändischen Mönchen durchtelefoniert, das war die höchste Telefonrechnung meines Lebens. Irgendwann sehr viel später, als es dann die Hotline gab, sind wir dann mehrmals täglich angerufen worden und mussten die Daten der Vermissten wieder und wieder ansagen. Wir sind mehrmals am Flughafen gestanden, weil uns gesagt wurde, sie leben, sie kommen an. Das waren völlig überforderte Grundwehrdiener dort an der Leitung, die mit unzentralisierten Excel Tabellen gearbeitet haben.

Wir haben dann eine Suchdatenbank ins Leben gerufen und eine Webpage betrieben, ich habe zwei Monate lang meinen Beruf hintangestellt und 20 Stunden am Tag dafür gearbeitet. Ich war in einem extrem emotionalen Ausnahmezustand. Wir haben dann befreundete Ärzte gebeten, die Fotos von Leichen durchzusehen, weil wir das Vertrauen in die Behörden verloren haben. Aber wir sind nicht weitergekommen mit den vielen tausend Fotos aufgedunsener Körper. Ich habe dann auch die Wohnung geräumt. Und Haare aus den Bürsten nach Innsbruck geschickt zur Erfassung der DNA.

Wer von beiden ist zuerst identifiziert worden? (bedeckt die Augen mit den Händen) Ich weiß es nicht mehr. Wie genau ich es erfahren habe, ist eines der Dinge, die ich nicht mehr weiß. Ich hatte so oft die trügerische Hoffnung, dass sie noch leben. Ich hatte hochgradig irrationale Gedanken, obwohl ich ein rationaler Mensch bin: Vielleicht sind sie irgendwo gerettet im Hinterland, haben unter Wasser bei einem Tauchgang überlebt.

Trauer

Bei Peters Begräbnis habe ich Grabbeigaben neben die Urne gelegt, "Parisienne", die hat er geraucht und einen Illy-Kaffe. Und seine Lieblingszeitung. Uns seine Musik haben wir gespielt. Er ist am Flughafen in Graz angekommen. Ich dachte: es ist erledigt, aber es hat gedauert übers Begräbnis hinaus. In Wahrheit kann ich es noch immer nicht fassen. Ich habe seine Handynummer noch immer gespeichert. Ich kann sie nicht löschen. Irgendwann hab ich sogar angerufen nach dem Begräbnis.

Ich habe "Gold" von Abba aus dem Fenster geworfen, nie im Leben höre ich wieder Abba. Und bei der "Bitter sweet Symphony" von The Verve werde ich sentimental. Den 26. 12. haben wir im Freundeskreis jahrelang strukturiert begangen und so verbracht, als wären die Jungs noch da. Der Nachmieter wollte die Pflanzen der beiden nicht und so haben wir den Transport gezahlt. In unserem Innenhof war ja die Steppe und da steht jetzt der Ahorn und gedeiht.

Wir haben bei der Räumung der Wohnung für alle eine Kleinigkeit mitgebracht als Erinnerung. Mir ist bei jedem Ding das Herz gebrochen. Ich habe mir eine Tasche genommen. Irgendwann musste ich verreisen und da ist, kling, dieser Ring herausgefallen. Ich wusste, den hat der Attila dem Peter geschenkt. Er muss ihn vor Thailand abgenommen haben. Ich habe ihn von einer befreundeten Goldschmiedin umarbeiten lassen, seitdem ist er mir angewachsen.

In einer Trauergruppe war ich nie. Zuerst war ich wie der Hamster im Rad und hätte gar keine Zeit gehabt. Später hab ich es nicht mehr gebraucht. Zum Glück habe ich ein Umfeld, das mich auffängt.

Was wir dieses Jahr am 26. 12. machen? Das haben wir noch nicht besprochen. Auf eine offizielle Feier gehe ich nicht. Ich möchte nie wieder jemanden im Ausland vermissen und auf die österreichischen Behörden angewiesen sein. Dass aus bürokratischer Eitelkeit damals Hilfsangebote abgelehnt wurden und nicht auf Profis zurück gegriffen wurde, kann ich nicht vergessen. Die Hilfsorganisationen nehme ich von dieser Kritik dezitiert aus. Der österreichische Auslandskatastrophenfonds, für den der Tsunami der Auslöser war, ist bis heute nicht wie vereinbart dotiert worden.

***

Astrid Becker war genau ein Jahr davor mit auf Khao Lak. 2004 fuhr sie statt nach Thailand auf eine Skihütte - und verlor ihren besten Freund Attila.

Er war mein allerbester Freund. Wir haben uns über einen gemeinsamen Bekannten kennengelernt und es war Liebe auf den ersten Blick. Ich kenne niemanden, der so offenherzig auf Menschen zugeht, wie Attila. Er hat jedem Menschen das Gefühl gegeben, dass er etwas Besonderes ist. Dieses Loch seiner Abwesenheit ist geblieben und bis dato von niemandem ersetzt worden. Wir sind nur zwei Tage auseinander und haben deswegen viele Geburtstage gemeinsam gefeiert. Selbst heute ist er da noch präsent und in meinen Gedanken immer dabei.

Ich war auf einer Skihütte, als ich die Nachricht bekam. Ich hab sofort hektisch herumtelefoniert, weil ich ja wusste, wie es vor Ort ausgesehen hat. Wir waren im Jahr davor gemeinsam dort auf Khao Lak gewesen. Ich habe dann über die Seite des Roten Kreuzes versucht, fundierte Infos zu bekommen. In Wahrheit war das eine schreckliche Zeit, weil man konnte nichts tun. Wir haben dann versucht zu netzwerken und eine Website aufgebaut. Die ist nach einem Tag gecrasht, weil es so viele Zugriffe gab.

Zwei Freundinnen von mir haben sich dann aus Sri Lanka gemeldet, dass sie leben. Das war eine so positive Nachricht, dass ich die erste Woche getragen war von Hoffnung. Als dann immer mehr TV-Bilder kamen und Magazine war das sehr ernüchternd, v.a., wenn man wie ich gewusst hat, wie das vor Ort vor dem Tsunami ausgesehen hat. Auf Khao Lak war auf über einem Kilometer vom Strand weg alles zerstört und braun, da war mir klar, wenn die sich nicht irgendwo haben retten können…

Wir haben dann angefangen, alle Krankenhäuser abzuklappern dh. alle Listen angeschaut. Irgendwann ist dann der Hoffnungspunkt überschritten und der Zeitpunkt, wo man sich vertraut machen muss mit dem Gedanken: die kommen nicht mehr. Es ist dann in zwei Etappen weitergegangen. Erst wurden sie für abgängig, dann für tot erklärt. Seine Schwester hat dann ein Begräbnis veranlasst, wir Freunde haben unsere eigene Verabschiedung gefeiert, in Wien an einem schönen Sommertag, alle in Weiß – als Gegenteil von unserer Trauerfarbe Schwarz.

Bewahren

Wir haben so ein thailändisches Geisterhäuschen in unserem Pavillon im Garten, das den beiden, Attila und seinem Lebensgefährten Peter, gewidmet ist. Da gibt es auch eine Box, wo jeder, dem es ein Anliegen ist, ihnen eine Botschaft schicken kann. Wenn wir heute im Garten im Pavillon sitzen, sind die beiden immer dabei.

Vor der Verabschiedung haben wir Freunde uns in regelmäßigen Abständen getroffen, weil anfangs war das gar nicht fassbar: Was heißt das jetzt für einen selber? Wir haben ein Netzwerk an Daten auf der Seite "Memento" versucht aktuell zu halten. Ich hatte das Gefühl, ich muss alles bewahren. Das war eine Seite, da konnte man seine Lieblingsfotos posten und sich das Schwarz von der Seele schreiben. Ich wollte alles konservieren aus Angst, irgendeine Erinnerung verblassen zu lassen. Heute ist das nicht mehr so wichtig.

Die Jungs sind da, dadurch, dass wir an sie denken. Manchmal frage ich mich: kann ich mir sein Gesicht noch vorstellen? Wahrscheinlich schaut er jünger aus, weil ich zehn Jahre älter geworden bin. Im Zuge des Loslassens nehme ich das nicht mehr so akribisch genau wie am Anfang. Am Jahrestag ja, da zünden wir eine Kerze an und geben Opfergaben wie die Thais. Am zehnten Jahrestag werden wir uns alle wieder treffen, meine Trauergruppe ist mein Freundeskreis.

Ob ich dadurch, dass es so plötzlich geschehen ist, Angst vor Sterben habe? Eher umgekehrt. Wir waren ein Jahr vorher gemeinsam dort, es hätte genau so ein Jahr vorher passieren können. Warum gerade die? Man kann und darf es nicht werten. Der Attila hat sicher das beste aus seinem Leben gemacht. Die haben‘s hinter sich. Ich bin nicht gläubig im klassischen Sinn, eher spirituell: Wenn’s was gibt nach dem Tod bin ich sicher, dass wir uns wieder treffen. Es ist einfach eine positive Energie zwischen uns und die kann man ja bekanntlich nicht zerstören.

Bilderflut

Es hat lange gedauert, bis das Erbe durch war. Attilas großer Apfelbaum wächst jetzt bei meiner Schwester in Salzburg. Wenn er trägt, sag ich: schau, ein Attilaapfel. Es sind so kleine Dinge, die einen erinnern. Für mich war es bis dato unmöglich, wieder nach Thailand zu fahren. Aber Freunde waren dort, und haben für uns einen Sorgenballon steigen lassen. Es bedarf nicht unbedingt des Platzes dort für eine Verabschiedung. Wenn man weiß, wie viel Leid dort passiert ist, wäre es mir emotional nicht möglich gewesen.

Angesichts der Bilderflut war bei mir eine Grenze erreicht. Die Fotos im "Profil" von aufgedunsenen Leichen am Strand waren für mich unter jeder Kritik. Das Ministerium war unfähig die ersten Tage und die Zivildiener an den Hotlines überfordert. Da sind dann auf einmal die Namen der Angehörigen auf der Vermisstenliste gestanden. Aus mangelnder Unterstützung der Behörden haben wir uns dann selber organisiert.

Das einzige, das wir damals und jetzt hoffen ist, dass es schnell gegangen ist. Attila hatte Angst vor dem Wasser. Ich erinnere mich, dass er einmal von der Luftmatratze gefallen und in Panik geraten ist. Der ganze Bungalow wurde weggerissen. Die hatten Jetlag und haben geschlafen, alles andere mag man sich nicht ausmalen.

Loslassen

In der ersten Zeit habe ich viel geträumt. Dass ich sie in Alltagssituationen getroffen habe, aber sie waren stumm. Das hat im Zuge des Loslassens aufgehört. Ich habe im ersten Jahr der Trauer alle Jubiläen und Festtage einmal durchgemacht, dann wird es leichter mit der Zeit. Man muss sich das mit sich selbst ausmachen. Wenn man es einmal akzeptiert hat, dann passt es auch. Was für mich kaum zu ertragen ist, sind Dokus. In bewegten Bildern ist das für mich auch nach zehn Jahren noch absolut hart.

Ich hab auch SMS geschickt, obwohl ich gewusst habe, dass sie schon tot sind. Aber später hab ich gedacht: sie sind tot und es nutzt nichts und ich lösch jetzt die Nummer. Mit dem Tod von Gleichaltrigen umgehen, hat es bei den nächsten Malen einfacher gemacht. Ich habe eine Freundin verloren und vor vier Jahren meinen Vater. Ich habe jetzt Erfahrung mit Verlust, ich weiß: man fängt sich. Das ist das, was ich mir mitgenommen habe daraus. (Tanja Paar, derStandard.at, 21.12.2014)