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"Putin ist jemand, der provoziert, doch der Westen reagiert mit untauglichen Mitteln." Günter Grass, seit jeher ein streitbarer Querdenker, reibt sich noch immer an der Politik.

Foto: APA/EPA/SVEN HOPPE

Seit über zwanzig Jahren lebt Günter Grass "ganz einsam", wie er sagt, in Behlendorf, eine halbe Stunde Autofahrt von Lübeck entfernt. Der Schriftsteller, Grafiker und Bildhauer kann sich auf dem Land auf seine Arbeit konzentrieren. Er benutzt kein Internet und hat kein Handy, schreibt stehend auf einer alten Reiseschreibmaschine Marke Olivetti. In Lübeck hat er seit Herbst 1995 sein Sekretariat und sein Archiv.

Die Hansestadt Lübeck richtete auf diesem Grundstück 2002 das "Günter-Grass-Haus" ein, in dem der Zusammenhang zwischen Schreiben und Zeichnen gezeigt wird, es gibt ein Archiv für die Sammlung des Hauses, einen Seminarraum, Arbeitsplätze für wissenschaftliche Mitarbeiter und einen Laden. Um die Ecke befindet sich das Willy-Brandt-Haus. Die zwei Gebäude verbindet ein Innenhof, über den man von Haus zu Haus gehen kann.

STANDARD: Wenn Sie heute an Willy Brandt denken, was fällt Ihnen zuerst ein?

Günter Grass: Dass uns Politiker von diesem Format fehlen. Es fehlt uns seine Art, Politik zu betreiben, den Gegner nicht als Feind zu behandeln, sondern als jemanden, mit dem man reden, den man verstehen, dessen Interessen und Belange man erst einmal begreifen muss, bevor man einen langen und von Rückschlägen gezeichneten Verhandlungsweg begeht.

STANDARD: Wie steht es heute um die Sozialdemokratie in Europa?

Grass: Früher führten Willy Brandt, Bruno Kreisky und Olof Palme die Sozialistische Internationale an. Zu dem Zeitpunkt hatte sie auch internationales Gewicht. Als, zum Beispiel, in Portugal die Nelkenrevolution begann, meinten die Amerikaner, das sei eine kommunistische Gefahr, gegen die man nach dem Modell Chile vorgehen sollte. Damals hat die Sozialistische Internationale mit Brandt an der Spitze den Plan von Henry Kissinger verhindert, zugunsten Portugals und aller Menschen in Europa. Ein solches Gewicht hat die Sozialdemokratie heute nicht mehr. Die Interessen laufen auseinander. Das liegt sicher auch daran, dass der Kapitalismus als System in der Lage war, sich zu globalisieren, die Gewerkschaften aber nicht. Die stecken nach wie vor in Tarifproblemen im nationalen Bereich fest, sie schaffen es nicht, eine grenzübergreifende Solidarität herzustellen. Das führt natürlich zu Machtverlust, und auch dazu, dass sich Arbeitnehmer in Gewerkschaften und der Sozialdemokratie nicht mehr zu Hause fühlen. Global ist die Tendenz zu beobachten, dass Reich und Arm immer weiter auseinanderdriften, einzelne Existenzen, Länder und Kontinente betreffend, und eigentlich ist nichts notwendiger als ein Wiederaufleben der Sozialdemokratie, jener Interessengruppierung, die sich für die Abhängigen im breitesten Sinne des Wortes einsetzt.

STANDARD: Sie sagen von sich, Sie seien demokratischer Sozialist. Was heißt das?

Grass: Für mich bedingen die Begriffe Demokratie und Sozialismus einander. Ohne soziale Gerechtigkeit kann keine Demokratie arbeiten, und umgekehrt missrät ohne demokratische Kontrolle der Sozialismus, wie wir es oft erlebt haben.

STANDARD: Ist Wladimir Putin eine Gefahr für Europa?

Grass: Es gab die Europäische Union, als Europa noch geteilt war. Damals hat sich Westeuropa als Gesamteuropa aufgespielt. Dann kam es zu einer sehr raschen Erweiterung, Staaten des Warschauer Paktes sind der EU beigetreten. Und trotz des Versprechens, dass die Nato an der Oder haltmacht, sind Polen und die baltischen Staaten in die Nato aufgenommen worden. Das russische Putin-System empfinde ich als schrecklich. Aber wenn ich es verstehen will, muss ich die Angst der Russen begreifen, dass Russland in die Zange genommen wird, wenn demnächst Georgien oder Moldawien zur Nato gehören sollten. Die Ursache für die hysterischen Reaktionen, die wir beobachten, liegt auch in einer gewissen Aggressivität der Nato, die sich immer mehr ausweitet. Ich hätte mir für Deutschland, das die Problematik in Bezug auf Russland kennen müsste, eine eher zurückhaltende Haltung gewünscht. Putin ist jemand, der provoziert und Macht behauptet, doch der Westen reagiert mit untauglichen Mitteln darauf. Man macht der Ukraine Versprechungen, die man nicht halten kann, und fördert so Unruhe auf beiden Seiten. In den USA ist Wahlkampf, da muss man offenbar den starken Mann markieren und die Nato zu einem Verhalten drängen, das wenig hilfreich ist.

STANDARD: Sie wussten, dass Sie mit dem Israel-Gedicht "Was gesagt werden muss" großen Unmut auf sich ziehen werden. Warum haben Sie es trotzdem veröffentlicht?

Grass: Ich habe in dem Gedicht erklärt, warum ich lange geschwiegen habe. Meiner Generation ist die Lektion erteilt worden, dass niemand hinterher sagen darf, dass man es nicht gewusst hätte. Israel ist eine mittelgroße Atommacht, und auch wenn man Atomwaffen nicht beim Namen nennt, weiß man, wenn man vom Recht auf den Erstschlag spricht, worum es geht. Das musste gesagt werden. Die Menschheit ist noch nie so gut informiert gewesen wie heute, sie ist überschüttet mit Nachrichten, doch die eine löscht die andere. Das Unrecht geschieht vor unseren Augen an vielen Orten der Welt, in Afrika, im Nahen Osten, in der Ukraine. Wir wissen das alles. Zu den Hungersnöten, die provoziert werden, obwohl Nahrung für alle da ist, kommt die Wasserknappheit, die Klimaveränderung. Es findet alles gleichzeitig statt. Der dritte Weltkrieg hat schon begonnen - und es ist ein Verteilungskrieg. Historiker werden im Nachhinein darüber streiten, wann genau er anfing.

STANDARD: Paul Celan hat in der "Todesfuge" geschrieben, der Tod sei ein Meister aus Deutschland. Wie klingt das heute für Sie?

Grass: Das ist eine Metapher, die einen schrecklichen, realen Hintergrund hat. Übrigens ist es ein Gedicht, das ein anderer Autor aus Siebenbürgen zuerst geprägt hat, was Paul Celan versäumt hatte zu sagen, sodass man ihm Plagiatsvorwürfe gemacht hat. Das ist ein großes Gedicht, aber es hat eine gewisse Ausschließlichkeit. Wenn wir uns die Geschichte des 20. und den Beginn des 21. Jahrhunderts ansehen, so fand Völkermord auch anderswo statt, nicht allerdings in diesem technisierten Ausmaß. Darin lag eine grauenhafte Meisterschaft, die von Deutschen bewiesen wurde. Nichts schützt uns davor, dass sich so etwas wiederholt. Wir haben Ansätze, nicht in der Größenordnung und auch nicht zu vergleichen, aber auch beim Auseinanderfall Jugoslawiens erlebt. Wir erleben es nicht nur durch Waffengewalt, sondern auch auf schleichende Art und Weise. Wenn die Preise für Mais, Sojabohnen und andere Grundnahrungsmittel an der Börse in Chicago mit Spekulationsgewinn verhandelt werden, heißen zwei Prozent weniger oder zwei Prozent mehr unter dem Strich hunderttausend Verhungerte in Afrika und in Asien. Und das ist alltägliche Politik, auf anders meisterhafte Art ein permanenter, schleichender Völkermord. Die Monopolstellung, was Saatgut betrifft, haben vier Großkonzerne, darunter drei amerikanische, die über Leben und Tod entscheiden.

STANDARD: Worauf sind Sie stolz, und was bereuen Sie in Ihrem Leben?

Grass: Ich bin ein politisch engagierter Bürger, der von Beruf Schriftsteller, Grafiker und Bildhauer ist. Bei mir hat die Schule mit fünfzehn Jahren aufgehört. Ich wurde Luftwaffenhelfer, dann kam ich zum Arbeitsdienst, zum Militär und in die amerikanische Kriegsgefangenschaft. Es war ein Barackendasein, und mit achtzehn musste ich mich neu erfinden. Alles, was ich weiß, habe ich mir selbst beibringen müssen. Darauf bin ich stolz. Die oft mit Niederlagen verbundenen Wahlkämpfe für die SPD haben viel Zeit und Kraft gekostet, aber das habe ich nie bereut. In meinen politischen Einschätzungen habe ich die Macht der Banken unterschätzt. Auch habe ich zu lange an die moralische Stärke und Überlegenheit Amerikas geglaubt, obwohl ich es hätte besser wissen müssen. Ich habe den Einfallsreichtum des Kapitalismus unterschätzt. Und ich habe, der Tendenz entgegen, immerhin sechs Kinder in die Welt gesetzt, meine Frau hat noch zwei mitgebracht, und wir haben schon achtzehn Enkelkinder. An mir liegt es nicht, wenn die Deutschen aussterben. (Andrej Ivanji, DER STANDARD, 20./21.12.2014)